Das Porträt eines gescheiterten Aufschneiders

Irène Némirovskys Blick dorthin, wo es schmerzt

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst seit 2005 nehmen wir Irène Némirovsky (1903–1942), die in den 1920er- und 1930er-Jahren in der Pariser Literaturszene große Berühmtheit erlangte und als Star gefeiert wurde, als Schriftstellerin wahr, deren Werke auch heute noch literarische Bedeutung haben und darüber hinaus wahren Lesegenuss bieten. Auch mit dem im vergangenen Frühjahr in der Sammlung Luchterhand erschienenen Roman „Herr der Seelen“ beweist Némirovsky ihr Können.

Sie zeichnet das Porträt eines jungen Arztes, Dario Asfar, der zusammen mit seiner Frau Clara vom Schwarzen Meer nach Frankreich kommt. Als unerwünschter Immigrant – wir befinden uns in den 1920er-Jahren – wird er abgelehnt, die Patienten bleiben aus, der Ausländer wird gemieden. Doch braucht er dringend Geld, denn Clara hat eben ihr erstes Kind bekommen und er muss die junge Familie durchbringen. Clara und Dario kennen Entbehrung, Demütigung und Ablehnung, sie halten zusammen und trotzen der Welt. Clara hat volles Vertrauen zu ihrem Mann und lässt ihn gewähren, Dario kennt sich aus und scheut auch vor fragwürdigen Aktionen nicht zurück. Und einmal in diesem Strudel, gerät er immer tiefer hinein. Skrupelloser werden seine Methoden, anspruchsvoller seine Bedürfnisse, größer sein Geldbedarf.

Er trifft auf den schwerreichen und ebenso kaputten Industriellen Wardes, und mit dieser Begegnung eröffnet sich ihm ein neues Betätigungsfeld: Er wird zum „Herrn der Seelen“, er entwickelt sich vom seriösen Arzt zum Scharlatan, nimmt die Erkenntnisse der Psychoanalyse auf und wendet sie an, in der von ihm entwickelten „Lehre“, mit der er den Schönen und Reichen, in einer dekadenten Gesellschaft Lebenden und an ihr Leidenden, helfen kann beziehungsweise mit der er an deren Geld kommen kann. Das vermeintliche Glück hält nicht lange, rasch sinkt sein Stern, und er landet wieder dort, wo er einmal angefangen hat. Doch damals hatte er noch seine Jugend, die ihn keine Risiken fürchten ließ. Nun aber, als älterer Herr, kennt er nur noch die Gier nach Reichtum, nach Frauen, nach einem unsteten Leben, und die lässt sich – abgelehnt von der Gesellschaft, von der er so abhängig ist, weil er ihr Geld braucht – weder stoppen noch befriedigen.

Nachdem sich auch Darios Sohn Daniel von ihm abgewendet hat, bleibt allein Clara, die bis zu ihrem Tod zu ihrem Ehemann, den sie immer bewundert hat, hält. Für sie bleibt Dario der Emporkömmling, der es geschafft hat, der Arzt, der kraft seiner Berufung Leiden mindert und der Ehemann, der für seine Familie sorgt. Clara ist nicht blind, sie weiß genau, wo sich Dario des Nachts herumtreibt, ebenso ist ihr bekannt, wie über ihren Mann gesprochen wird. Doch was würde ihr bleiben, wenn sie sich das alles eingestehen und wenn sie sich von ihm trennen würde? Mit Dario ist sie damals geflohen, eine Existenz allein in der Fremde hätte sie für sich nie in Betracht gezogen. Doch damit verliert sie auch die Achtung ihres Sohnes, der am Ende des Romans verschwindet, nachdem sich Dario nach Claras Tod wieder verheiratet hat.

Irène Némirovsky, in Kiew als Tochter eines russischen Bankiers geboren, kam während der Oktoberrevolution nach Paris und studierte französische Literatur an der Sorbonne. Sie heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein und hatte mit ihm zwei Töchter. Ihr Roman „David Golder“ machte sie schlagartig berühmt. Es folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges floh sie mit ihrer Familie in die Provinz. Als Jüdin erhielt sie während der deutschen Besatzung Publikationsverbot. Némirovsky wurde am 13. Juli 1942 verhaftet und wenige Wochen später in Auschwitz ermordet. 2005 entzifferte Irène Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, an dem sie während der Okkupation arbeitete, und veröffentlichte den Roman mit dem Titel „Suite française“. Damit wurde Némirovsky auch im deutschen Sprachraum berühmt und es folgte die Wiederentdeckung ihres umfassenden Werks, zu dem auch der Roman „Herr der Seelen“ gehört.

Wie sehr sich diese Wiederentdeckung lohnt, beweist gerade das besprochene Buch einmal mehr: Es gelingt der Autorin in unvergleichlicher Weise, eine spannende Geschichte zu erzählen, ein Porträt eines Menschen zu zeichnen und gleichzeitig eine ganze Gesellschaftsschicht zu porträtieren. Sie hütet sich davor, zu werten oder Handlungen zu verurteilen, sie beobachtet scharf, schaut quasi in die Menschen hinein und zeigt Schwachstellen auf, die – erkannt von deren Mitmenschen – dazu führen können, dass letztlich alle zu den Verlierern gehören, ohne dass sie dies jedoch in jedem Fall realisieren würden. Und das alles liest sich unglaublich gut, dem Roman merkt man nicht an, dass er schon vor einigen Jahrzehnten verfasst wurde (erstaunlicherweise ist kein Hinweis auf die Entstehungszeit oder die Erstveröffentlichung zu finden, auch nicht auf der Webseite des Verlags). Die flüssige Sprache ist sicher auch das Verdienst der Übersetzung von Eva Moldenhauer, die ein großes Lob verdient.

Titelbild

Irène Némirovsky: Herr der Seelen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
286 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783630621579

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