Gödel’sche Erzählschleife

Andreas Münzners Roman „Stehle“ erzählt von der Bedrohung des Normalen durch das Andersartige

Von Katharina GranzinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Granzin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stehle, die Hauptperson dieses Romans, ist – genau wie sein Autor – ein in Hamburg lebender Schweizer. Während das Schweizer-Sein keinen unbedingten Ausnahmecharakter impliziert, ist genau dies in „Stehle“ etwas anders, ohne dass es hier um das Schweizer-Sein an sich ginge. Eher hat das nationale Distinktionsmerkmal Zeichencharakter. Stehle ist die Personifizierung von etwas irritierend Andersartigem.

Münzner beschreibt einen schleichenden Prozess der Entfremdung. „Wir hatten immer zu viert gewohnt“ hebt die Erzählung an, ein seiner Zeitform wegen ungewöhnlicher erster Satz, der von einem Grundton nostalgischen Bedauerns bestimmt wird. Ein Ich-Erzähler taucht auf der gesamten ersten Seite der Erzählung lediglich als impliziter Teil des „Wir“ auf – eines „Wir“ zudem, das es zu Beginn der erzählten Zeit gar nicht mehr gibt. Erst im zweiten Absatz gibt sich ein Erzähler-Ich zu erkennen: „Ich war schon seit Beginn in der WG und trug als Programmierer bei einem größeren Unternehmen, das niemand kennt, […] den Großteil zu den Ausgaben und zur praktischen Organisation bei.“ Auch um finanziell entlastet zu werden, liegt es daher im Interesse des Erzählers, die vollgerümpelte 5qm-Kammer, die sich in der WG-Wohnung befindet, zu vermieten – tagsüber und als Büro nur; so ein Loch würde man ja niemanden zum Wohnen zumuten. Doch es kommt anders. Ein Schweizer taucht auf, Beat Stäheli mit Namen, den er bald zu „Stehle“ eindeutscht. Nicht nur gibt er sich mit dem Kämmerchen als Domizil zufrieden, sondern geht mit Begeisterung in seiner neuen Rolle als WG-Bewohner auf, ohne – Schwadronierer und Herumstreuner, der er ist – finanziell Substanzielles zur Haushaltsführung beizutragen. Dafür lädt er einen obdachlosen Trinkkumpan zum Duschen ein, unterhält sich blendend mit der Putzfrau, die zum Aufräumen auf die WG-Party geladen ist, und putzt klaglos das Klo, wenn er dazu aufgefordert wird. Dass Stehle schuld sein soll, als die WG sich auflöst, ließe sich nicht einmal sagen.

Und es ist auch nur der Anfang; ein Vorzeichen dessen, was geschehen kann, wenn man einen Stehle in sein Leben lässt, wie der Ich-Erzähler es tut, der den ehemaligen Mitbewohner bald erneut bei sich – diesmal in eine kleine Zweizimmerwohnung – einziehen lässt. Dieser Ich-Erzähler, der konsequent nur so genannt werden müsste, da er fast bis zum Schluss, als Stehle ihn in einem Brief mit „Robert“ anspricht, keinen Namen hat. Was irritiert an der Männerbeziehung der beiden Hauptfiguren, ist unter anderem, dass nie klar wird, welches Problem der Erzähler wohl genau haben mag. Der Schweizer scheint harmlos genug. Dass Robert selbst sich verpflichtet fühlt, ihm das größere Zimmer in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung zu geben, um sich gleichzeitig darüber zu ärgern, ist ja nicht die Schuld des anderen, oder doch? Solche Kleinigkeiten summieren sich. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sein Leben in den Tag hinein lebt, während der andere sich für ein anonymes Großunternehmen abschuftet, wird schließlich zu viel.

Dass Roberts wohlgeordnetes Dasein immer mehr aus den Fugen gerät, je besser Stehle sich sozial integriert, ist Teil einer seltsamen Beziehungsbalance, die die beiden Figuren verbindet. Es liegt nahe, diese Konstellation tiefenpsychologisch zu deuten und Stehle als die Personifizierung einer chaotischen Seite von Roberts Wesen zu sehen, die dieser vor dem Auftauchen des anderen nur besser hat unterdrücken können. Und es gibt sogar einen expliziten Hinweis auf das Vorhandensein einer geradezu Gödel’schen Erzählschleife, wenn der Ich-Erzähler über die Lektüre eines Buches, das er liest – und das ebensogut jenes sein könnte, in dem er gerade vorkommt – folgendermaßen referiert: „Eine Art Hartnäckigkeit schimmerte durch den Text, ein abstraktes Kreisen um immer dasselbe Thema, eine Grundsituation, die schnell abgehandelt gewesen wäre, aber doch […] immer wieder neu aufflackerte und einem aus dem Hinterhalt der Beschreibungssyntax in den Nacken fiel.“

Beobachtungen, die auf den vorliegenden Roman ebenso zutreffen und nach einem interessanten literarischen Programm klingen. Damit es hier funktionieren kann, hätte aber der Ich-Erzähler von einem abstrakten Gedanken zu einer echten Figur reifen müssen. Auch wenn Robert ein massives Identitätsproblem hat, so ist er doch immerhin der Erzähler. Okay, er mag ein „unzuverlässiger“ Erzähler sein. Aber an dieser Grundsituation ist so manches nicht stimmig. Warum sollte eine so wenig selbstreflektierte Person überhaupt erzählen? Woher nimmt der Text seine subtile Ironie? Warum ist die erzählende Person in der Lage, ein äußerst vielschichtiges Bild eines anderen Charakters zu entwerfen, und hat dabei doch keinerlei Abstand zu sich selbst?

Auch wenn das besessene „Kreisen um immer dasselbe Thema“ genügend Anziehungskraft entwickelt, dass man die Lektüre gern bis zum Ende fortführt, bleibt man am Schluss mit dem leicht enttäuschten Gefühl zurück, als Leser aus einem Kreis fast vollendeter Selbstreferenzialität irgendwie ausgeschlossen gewesen zu sein. Bleibt da ein Rest Geheimnis? Oder war das Zentrum des Kreises etwa leer?

Titelbild

Andreas Münzner: Stehle. Roman.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2008.
256 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783935890557

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