Kunst, Können und Wollen

Anmerkungen zu Ketil Bjørnstads sensiblem Künstlerroman „Der Fluß“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist 1970. Der achtzehnjährige Klavierschüler und Ich-Erzähler Aksel Vinding hat Probleme, sich in seinem Leben zu orientieren. Seine Lebenssituation ist schwierig: „Ein achtzehnjähriger Klavierschüler, mit dem man leicht Mitleid haben kann. Mutter gestorben, ohne Elternhaus, Schule abgebrochen, voller Selbstzweifel. Aber wer zweifelt nicht an sich?“ Er ist verhalten optimistisch, findet Ausgleich in der Musik von Franz Schubert, Wolfgang Amadeus Mozart, Fugen von Johann Sebastian Bach und Etüden von Frédéric Chopin. Trotzdem ist die Ruhe trügerisch. Seine Freundin Anja ist nach einem misslungenen Debüt als Musikerin an Magersucht erkrankt und gestorben. Diese Belastungen überschatten das eigene Debüt als Pianist, geben ihm aber gleichzeitig das nötige Maß an emotionalen Erlebnissen, das er benötigt, um ausdrucksstarke Musik adäquat interpretieren zu können. Leiden und Kunst gehen bei Bjørnstad eine unauflösbare Symbiose ein.

Es ist eine introspektive Reise, die der Leser mit dem jungen Künstler durchlebt. „Der Fluß“ knüpft an den Vorgängerroman „Vindings Spiel“ an, der die drei Lebensjahre Aksel Vindings vor diesem Roman behandelte. Es ist beinahe ein Entwicklungsroman, der das Erwachsenwerden eines achtzehnjährigen Jungen mit künstlerischer Sensibilität thematisiert. Fast sind es zu viele Schicksalsschläge, die der Protagonist verarbeiten und durchleben muss. Aber da sich die Romanfigur – wie im richtigen Leben – ihr Schicksal nicht aussuchen kann, versucht sie einigermaßen klar zu kommen. Die sensibel beschriebene Beziehung, die er mit der Mutter seiner verstorbenen Freundin eingeht, belastet ihn zusätzlich. Die Verbindung zu einer Frau, die manisch-depressiv ist und eines längeren Aufenthalts in einer Klinik bedarf, verhilft dem Protagonisten letztendlich zu einer weiteren Erfahrung, die seine Kunst um eine zusätzliche emotionale Dimension bereichert.

Die merkwürdige Kompensation und Transformation von schmerzlichen Erfahrungen in Kunst, hier in Musik, lässt eine Variante des Künstlerromans entstehen, die gleichzeitig Elemente eines Adoleszenzromans enthält. „Der Fluß“ arbeitet die Problematik der Künstlerexistenz noch deutlicher heraus als „Vindings Spiel“. Mit der kompetenten Übersetzung von Lothar Schneider ist ein eindringliches Buch entstanden, das mit seiner zurückhaltenden Sprache und dichten Metaphorik die Schwierigkeit, sich für den richtigen Weg im Leben zu entscheiden, gestaltet. Letztendlich verweist Vindings Leben als Pianist auch auf die Möglichkeit, das Richtige im Falschen zu tun und trotzdem einen Weg zu finden. Man darf gespannt sein auf die Fortsetzung.

Titelbild

Ketil Bjørnstad: Der Fluß. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
382 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174257

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