Die Hölle ist ein kalter Ort

Johannes Zeilingers Buch „Auf brüchigem Eis“ inszeniert die Doppelentdeckung des Nordpols 1908/09 als einzigartiges Drama

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutlich teurer als die Expedition Commander Robert Edwin Pearys zum Nordpol, den er 1909 erreicht haben wollte, war die anschließende Pressekampagne. 350.000 Dollar gaben seine Gönner und Förderer mindestens aus, um den neun Jahre jüngeren Konkurrenten, den Arzt und Polarforscher Frederick Albert Cook, durch Verleumdung, Betrug, Manipulation von Artikeln und höchst einseitige Pseudountersuchungen aus dem Weg zu räumen. Übrigens erfolgreich. Cook hatte – durch Aufzeichnungen und Messergebnisse beglaubigt – versichert, am 21. April 1908 zusammen mit zwei Eskimos den nördlichsten Punkt der Erde erreicht zu haben.

Schon indem er die übermächtige Rolle der Öffentlichkeitsarbeit bei der Entscheidung um die Entdeckerehren ausführlich schildert, zeigt der Arzt und Privatforscher Johannes Zeilinger, wie lehrreich der damalige Streit um den Nordpol ist. Weit darüber hinausgehend, inszeniert er aber die Geschichte um den Nordpol-Zwist, humorvoll und detailreich.

Es gibt ein paar gute, ein paar neue Bücher über Cook und Peary, stand deren Zwist auch im Schatten des Konkurrenzkampfes Amundsen-Scott am Südpol. Doch Zeilingers Darstellung „Auf brüchigem Eis. Frederick A. Cook und die Eroberung des Südpols“ setzt neue Akzente. Sie überzeugt durch die originelle Komposition, die klare Bewertung der zahlreichen Fakten, die Fülle an Originalzitaten, einige gut ausgewählte Fotos und den lakonischen Humor. Die Nordpolfahrer erscheinen hier als Figuren in einem Drama, das Tragödie und Lehrstück mit eingestreuten Satyrspielen wirkungsvoll verbindet.

Anders als im Vorwort behauptet, widmet sich das Werk nicht nur Cook, dem Forscherarzt mit deutschen Wurzeln. Zeilinger klärt in einem knappen Kapitel über die Geschichte der Polarforschung bis hin zur Polverrücktheit vor einhundert Jahren auf. Er schildert dann Cooks und Pearys Leben in einer Art Parallelmontage mit Rückblenden. Dabei stehen ihre heroischen Taten neben privaten Fehlbarkeiten, ihr Kampf um Finanzierung und Anerkennung neben dem gegen Kälte und Krankheiten.

Im besten Stil angelsächsischer Sachbuchliteratur, die es in puncto Spannung mit den meisten Krimis aufnehmen kann, lässt Zeilinger keinen Zweifel daran, dass die Abenteuerlust beide Polarforscher in manische Zustände trieb, die bei Peary in psychotischen Hunger nach Ruhm ausarteten. Überzeugend begründet Zeilinger, warum seine Sympathien dem Berufskollegen Cook und dessen schrecklich ungerechtem Schicksal gelten. Es macht ihn jedoch nicht blind für Zweifel, die auch Cooks Nordpoleroberung gegenüber bestehen.

Weitaus größer sind aber die an Pearys „Entdeckung“. Gleich nach seiner Rückkehr stellten die Zeitgenossen noch peinliche Fragen. Kann man im Alter von 55 Jahren mit nur noch zwei Zehen zum Nordpol humpeln? Sind plötzliche Steigerungen der Tagesstrecken von erst durchschnittlich 23 auf 42 Kilometer möglich, obwohl man erschöpft ist? Wieso weist das Tagebuch keine Fettflecken auf, obwohl Peary täglich fettiges Pemmikan aß? Die gigantische Meinungsmacht seiner Finanziers und Freunde fegte solche Fragen beiseite.

Viel deutlicher als andere Autoren betont Zeilinger die Rolle der Eskimos. Peary, Amundsen und Cook lernten sehr viel von ihnen. Nur der Arzt interessierte sich aber wirklich für ihre Sprache, Kultur und Mythen. Sein Polarbuch trägt die Widmung: „Dem Indianer, der Pemmikan und Schneeschuh erfand, dem Eskimo, der uns das Schlittenreisen lehrte, diesen Zwillingsgeschlechtern eines Naturvolks, das keiner Flagge untertan, gebührt die erste Anerkennung.“

Frederick Cook erkannte spät, wie sinnlos der Wettlauf zu einem bloß gedachten Punkt war. Er schrieb von einem „Fool’s Paradise“ und betitelte seine Polaraufzeichnungen mit „Hell Is A Cold Place“.

Titelbild

Johannes Zeilinger / Karl Kraus: Auf brüchigem Eis. Frederick A. Cook und die Eroberung des Nordpols.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
351 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783882217469

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