Bewertungsprobleme an der Schnittstelle von biografischer Historizität und Literatur

Der Sammelband „Deutsch-deutsches Literaturexil“ von Walter Schmitz und Jörg Bernig nimmt Werk und Leben von DDR-Schriftstellern in den Blick

Von Juliane SchöneichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Schöneich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zunahme von Sekundärliteratur zur deutsch-deutschen Thematik ist, knapp 20 Jahre nach dem Mauerfall, nicht erstaunlich. Schon der zeitliche Abstand ermöglicht die noch immer, zumindest teil-politisch motivierte, Nachbewertung und Historisierung von Literatur aus der DDR. Der pünktlich vorliegende Sammelband von Walter Schmitz und Jörg Bernig beschäftigt sich mit einer Literatur, die im Anschluss an das Schockpostulat „zweier deutscher Literaturen“ von 1975, von Fritz J. Raddatz 1987 als „dritte deutsche Literatur“ bezeichnet wurde. Es ist die Literatur jener Autoren, die aus der DDR in die BRD übergesiedelt waren.

Ein erster Rahmen wird durch den umfangreichen Aufsatz von Schmitz abgesteckt. Hier werden aus historischer, sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht, aber eben auch spürbar politisch akzentuiert, gesellschaftliche Zusammenhänge verdeutlicht und Positionsbestimmungen ausgewanderter Autoren vorgenommen. Den zweiten, deutlich größeren Teil bilden Autoren- und Werkbesprechungen verschiedener Beitragender. Positiv hervorzuheben sind die für einen Kurzüberblick hilfreichen biobibliografischen Angaben zu den jeweils besprochenen Autoren am Ende jeden Aufsatzes sowie das, leider noch immer nicht selbstverständliche, Personenregister.

Schmitz’ Aufsatz rechtfertigt den Anspruch einer literarischen Spurensuche in keiner Hinsicht. Die Wichtigkeit einer sozialgeschichtlichen und historischen Nachzeichnung der Unterdrückung und Verfolgung von Kunstschaffenden in der DDR und deren Schwierigkeiten in der BRD soll keinesfalls in Abrede gestellt werden. Die Positionierung des Artikels im literaturtheoretischen Bereich erweist sich jedoch als fraglich. Es überwiegen biografische Muster, exemplarische Lebensläufe und die Darstellung sozialer und psychologischer Effekte der Heimatlosigkeit durch Auswanderung oder Ausweisung. Bezüglich des literarischen Schaffens der „Exilierten“ wird nur lapidar auf eine umfassende Heterogenität hingewiesen, auf ein „Feld von Verweisen und Zusammenhängen – und zwar in mehreren Dimensionen, […] seien es Verwandtschaft der Werke in Thema und Motiv, seien es Schreibweisen, Selbstthematisierungen, Werthaltungen”. Über dieses Postulat geht die Werkauseinandersetzung in diesem Aufsatz nicht hinaus und so wird versäumt, einen möglichen literaturwissenschaftlichen Sinnzusammenhang bezüglich der Beitragssammlung des zweiten Teils auch nur anzudenken.

Vermied Raddatz noch den Begriff des „Exils“, wird dieser im vorliegenden Band, im deutlichen Bewusstsein geschichtlicher Parallelen, ungehemmt verwendet. Exil, Flucht, Versteck oder Emigration bilden so auch den dominierenden Bezugsrahmen der Aufsätze. Von Autoren selbst vorgenommene Modifikationen des Begriffs bis hin zur Ablehnung kommen zwar zur Sprache, werden aber trotz der großen Vertreterzahl jener, die einen ‘Flüchtlingsstatus’ schlichtweg verneinten (Thomas Brasch, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Uwe Johnson, Wolfgang Hegewald und andere), letztendlich übergangen oder als psychologische Schutzmechanismen abgetan.

Für die Rechtfertigung des Exilbegriffes verwendet Walter Schmitz dementsprechend großen Raum. Er begründet seine Auffassung schließlich damit, dass sich „trotz solch immer wieder konstatierter Uneinigkeit […] gerade aus der medialen Aufmerksamkeit vor und auch nach 1989, ein erstes gültiges Argument, auf diesem Kennwort ‚Exil’ zu bestehen” ergebe. Die methodische Fragwürdigkeit, öffentliche Meinungen als Fundament für eine wissenschaftliche Argumentation zu nutzen, entgeht dem Verfasser hierbei anscheinend. Dieses Vorgehen ist jedoch symptomatisch für die zwar biografisch detaillierte, aber auf weiten Strecken pauschalisierende und tendenziöse Argumentationsweise. So wird die systemkritische Haltung von in der DDR verbliebenen Autoren, zumindest implizit, abgewertet. Dies stellt sich nicht nur anhand der beinahe infamen Gleichsetzung von „Verfolgern / Tätern“ und „Mitläufern / Kompromissbereiten“ dar. Als kurzes Beispiel sei in biografischer und literarischer Hinsicht, auch hier wieder, Christa Wolf genannt. Die Biermann-Ausbürgerung wird, zu Recht, als eine „Prüfung auf intellektuellen Mut und Redlichkeit” charakterisiert, gleichzeitig jedoch eine bloße Mitinitiierung der Petition gegen seine Ausweisung durch Wolf nicht für erwähnenswert gehalten. Weiterhin wird systemkritisches Schreiben (der Autor nennt hier Wolf, Volker Braun und Christoph Hein) als „loyale Kritik” – die sich im Gefolge einer, der Ideologie des Staates eng verpflichteten, genuinen DDR-Literatur-Masse utopischen Sozialismusphantasien widmet – abgewertet. Die Erzählung „Was bleibt“ wird von Schmitz ausschließlich als Rechtfertigungstext gelesen und die Parallelität des gelobten Fuchs-Zitates aus „Magdalena“: „Eines Tages wird man darüber sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh”, mit Wolfs fast identischer Aussage: „Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh, aber es ist nicht immer zu früh”, eben aus „Was bleibt“, völlig übergangen.

Der Aufsatz von Walter Schmitz bietet dementsprechend zwar detaillierte Einblicke bezüglich sozialer und kultureller Aspekte und nicht zu marginalisierender Nöte der Gruppe ausgewanderter AutorInnen, aber eben keine literaturwissenschaftliche Analyse. Die fehlende Herausarbeitung eines über biografische Parallelen hinausgehenden kohärenten literarischen Bezugsrahmens soll jedoch nicht über Qualität und Gebrauchswert der folgenden Aufsätze hinwegtäuschen. Hier werden Prosa und Lyrik einzelner Autoren im jeweiligen biografisch-sozialen Kontext auf Motive, Taditionsbezüge und Neuerungen, Schreibarten und den zentralen Topos des „Exils“ hin untersucht. Die zuvor beanstandete forcierte Nutzung des Begriffs kann nun wenigstens teilweise relativiert werden. So verweist beispielsweise Lennart Koch darauf, dass Monika Maron nur schwerlich als Exilschriftstellerin bezeichnet werden kann.

Trotzdem fällt die Abgrenzung ausgewanderter Autoren zu jenen, die geblieben sind, und die implizierte starke Wertung bei fast allen Beiträgen ins Auge. So bemerkt Rhys W. Williams in Bezug auf Kirsch, dass „diejenigen, die in der DDR geblieben waren, nur als ‚Mitläufer’ des Regimes bezeichnet werden können. Deren Selbstentlastung, das Argument, dass sie geblieben sind, um eine Art inneren Widerstand zu leisten, stellt ihre [Sarah Kirschs] Ausreiseentscheidung von 1977 in Frage.” Nach Williams werden so „die erbitterten Debatten zwischen den ‚inneren’ und den ‚wahren’ Emigranten nach 1945 in Erinnerung” gerufen – Kirsch ist für ihn, entgegen ihrer Selbstauffassung, „zweifelsohne eine ‚Emigrantin’”.

Die Definition eines Widerstandsbegriffes, der nur in Ausreise und endgültiger Abgrenzung Verwirklichung findet, kann in seiner Pauschalität keine Gültigkeit beanspruchen. Zu viele Lebensentwürfe werden hier kategorisch abgeurteilt, zu einseitig sind die Wertmaßstäbe, zu wenig Verständnis oder Empathie wird aufgebracht, was sich in Ton und Haltung vieler Beiträge spiegelt. Sicherlich spielt die Förderung des Bandes durch die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur diesbezüglich eine Rolle, möglicherweise sind es auch divergierende Lebenserfahrungen und Gesellschaftsbilder oder Generationenunterschiede zwischen Besprochenen und Besprechenden. Dies spielt bei wissenschaftlichem Arbeiten für gewöhnlich eine relative geringe Rolle, und würden sich die vorliegenden Aufsätze auf literaturtheoretische Fragestellungen konzentrieren, wäre es nicht erwähnenswert. Da die Bewertung von Lebensläufen hier jedoch zu dominieren scheint, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass keiner der besprochenen Autoren nach 1957 geboren wurde, mehr als 80 Prozent der Beitragenden jedoch nach diesem Zeitpunkt zur Welt gekommen sind. Die fehlende Kongruenz gemeinsamer Generationenzusammenhänge ändert den Blickwinkel dementsprechend beträchtlich und könnte einige der Pauschalisierungen erklären. Auch die diesbezüglich fehlende Innen- und Einsicht in Gesellschaftssysteme scheint unversöhnliche Aspekte der Fremdbeurteilung eher zu unterstützen als zu widerlegen, denn nur ein oder zwei der älteren Beitragenden kommen aus der DDR. Dies mag unter dem Vorzeichen des Zusammenwachsens irrelevant sein, doch wenn es wie hier um eine Bewertung nicht nur von Literatur, sondern von Biografien geht, spielen parallele Erfahrungen durchaus eine Rolle.

Etwas mehr Ausgewogenheit, eine objektivere Betrachtungsart und eine Herangehensweise, die Anerkennung des einen nicht über Abwertung eines anderen zu erreichen sucht, wären dem gesamten Band zu wünschen gewesen.

Titelbild

Walter Schmitz / Jörg Bernig (Hg.): Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2009.
755 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783935712033

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