Problematischer Versuch

Juliane Rieches Studie über die „Literatur im Melancholiediskurs des 16. Jahrhunderts“ hat größere Mängel

Von Romy GünthartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Günthart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste Band der neuen, aus dem Erlanger Graduiertenkolleg „Kulturtransfer im europäischen Mittelalter“ hervorgegangenen Buchreihe „Literaturen und Künste der Vormoderne“ widmet sich dem „Topos der Melancholievertreibung“ (Juliane Rieche) in deutschsprachigen Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts. Das Thema ist für die Reihe, die vor allem die Kohärenz der verschiedenen geistesgeschichtlichen Fächer betonen will, äußerst geeignet, ist doch die Melancholie seit der Antike Gegenstand medizinischer, philosophischer, theologischer und künstlerischer Auseinandersetzung.

In der als germanistische Dissertation entstandenen Arbeit Rieches soll dann auch die „Literatur im Melancholiediskurs des 16. Jahrhunderts“ – so der Haupttitel – in den Blick genommen werden. Der Untertitel, dem die Arbeit in ihrem Aufbau folgt, gewichtet jedoch anders, wenn er die Medizin, Astrologie und Theologie vor Michael Lindeners Schwanksammlung „Katzipori“ stellt. In der Tat benötigt Rieche 264 der insgesamt 358 Textseiten, bis sie zum Ausgangspunkt und Zentrum ihrer Arbeit kommt: Michael Lindeners „Katzipori“ (Augsburg: Hans Gegler, 1558). Sie tut dies nach einer allgemeinen Einleitung und einem einführenden Kapitel, in dem sie sich mit dem Thema der Melancholievertreibung als Vorredentopos auseinandersetzt, in insgesamt vier Haupt- und 71 Unterkapiteln: In einem ersten Schritt stellt sie unter dem Titel „Interdiskursive Rahmenbedingungen“ (3. Kapitel) ihre Methoden dar. Nach einem Bekenntnis zum New Historicism und zur Foucault’schen Diskursanalyse betont Rieche die Bedeutung der Rhetorik und die medialen Möglichkeiten des Buchdrucks als wichtige Parameter für die Literaturproduktion und -rezeption im 16. Jahrhundert. In der Folge präsentiert sie die Titel verschiedenster frühneuzeitlicher Texte von prognostischen, medizinischen und theologischen Schriften mit Erscheinungsdaten zwischen 1548 und 1684, die für die folgende Untersuchung herangezogen werden. Das abschließende Unterkapitel widmet sie den Spezifika fiktionaler Literatur. Die drei folgenden Hauptkapitel umkreisen das Thema der Melancholie im historischen Kontext als Zeitphänomen des 16. Jahrhunderts, im medizinischen und theologischen Diskurs der frühen Neuzeit. Das vierte und letzte Hauptkapitel, das zugleich das zentrale Kapitel der ganzen Arbeit darstellt, widmet sich unter dem Titel „Melancholievertreibung durch Lachen“ Michael Lindeners Schwankbuch. Die Arbeit beschließen ein Kapitel „Schluss und Ausblick“, ein Anhang mit 17 Abbildungen, Hinweise zu einigen so genannten „De Risu“-Traktaten des 16. und 17. Jahrhunderts und ein Literaturverzeichnis.

Mit dieser Anlage verspricht Rieches Arbeit zwar eine sowohl umfassende als auch facettenreiche Studie zum Melancholiediskurs des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, doch es gelingt leider nicht, dem hohen Anspruch gerecht zu werden. Dies liegt zum einen an den grundsätzlichen Problemen interdisziplinär angelegter Studien, die häufig zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, wenn für den Versuch unterschiedliche Paradigmen zu verbinden die eigene, disziplinär verankerte Expertise preisgegeben wird. Zum anderen erweist sich das Thema Melancholie als zu komplex, wenn man es, wie Rieche das tut, über einen Zeithorizont von über hundert Jahren, einen geografischen Raum, der sich über ganz Europa erstreckt, und auf einer Textbasis, die Schriften verschiedenster Gattungen und Sprachen umfasst, behandeln will.

Die in der Einleitung formulierte Fokussierung auf Lindeners Schwankbuch, seine Entstehungszeit und den süddeutschen Raum wäre sinnvoll und gewinnbringend gewesen. Leider gerät gerade das über weite Strecken völlig aus dem Blick. Zu diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten kommt, dass die Arbeit methodisch, sachlich, sprachlich und formal große Mängel aufweist. Diese im Einzelnen aufzuführen, kann nicht Sinn einer Rezension sein. Im Folgenden sei deshalb nur auf einige besonders gravierende oder exemplarische Punkte hingewiesen.

Die Problematik der Textauswahl, die Rieche für die Erarbeitung des Melancholiediskurses im Augsburg des Jahres 1558 heranzieht, wurde bereits erwähnt. Die Texte sind aber nicht nur räumlich und zeitlich disparat, sie stammen auch aus verschiedensten Kontexten, über die sie genauso wenig Rechenschaft ablegt wie über ihre Auswahlkriterien oder Editionsprinzipien. (Immer wieder findet sich beispielsweise die Form „unn“ anstatt „und“, weil sie falsch auflöst.)

Leider ist aber nicht nur die Auswahl der Primärtexte problematisch, sondern auch jene der Forschungsliteratur. So begnügt sich Rieche häufig damit, für ein Thema einen einzigen Forschungsbeitrag zu konsultieren, wobei es sich öfters um eine allgemein gehaltene und veraltete Überblicksdarstellung handelt, die sich an einen breiten Kreis von Leserinnen und Lesern richtet. Hier nur einige Beispiele: Die einzige Forschungsarbeit, die sie für das Kapitel „Textrezeption in der Gesellschaft des 16. Jh.s“ benutzt, ist die Arbeit von Erich Kleinschmidt „Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit“ aus dem Jahr 1982. Das Kapitel zum 16. Jahrhundert als Zeitalter der Veränderung basiert wesentlich auf Winfried Schulzes 1987 in 5. Auflage erschienener „Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618“. Daraus wird sogar zwei Mal der Klappentext – den Rieche „Umschlagtext“ nennt – zitiert.

Schulze bildet auch die Grundlage für das Kapitel „Das 16. Jh. als religiöses Zeitalter“, in dem sämtliche Lutherzitate aus Schulze stammen und kein einziges Mal die Werkausgabe benutzt wird. Um die Veränderungen, die die Reformation für den Buchdruck und Buchhandel bedeutete, darzustellen, beruft sich Rieche auf einen Artikel von Gunther Mann, der 1967 unter dem Titel „Gesundheitswesen und Hygiene in der Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock“ im Medizinischen Journal erschien. Es gäbe einschlägigere Literatur.

Für die Wirtschaftsgeschichte schließlich stützt sie sich vor allem auf die 1962 erschienene „Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Von der Frühzeit bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges“ von Peter Heinz Seraphim, der vor allem für Schriften wie „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ (1938) oder „Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage“ (1943) bekannt ist. Hier findet das Fehlen jeglicher Reflexion über die verwendete Forschungsliteratur seinen bedenklichen Höhepunkt.

Obwohl Rieche als eine Hauptthese ihrer Arbeit formuliert, dass Schwanksammlungen wie Lindeners „Katzipori“ aufgrund der erwarteten Melancholietherapie populär waren, nimmt sie die neueren Titel der Buchforschung, die speziell zu Augsburg durchaus vorhanden sind, nicht zur Kenntnis. Es fehlen nicht nur die grundlegenden Werke von Helmut Gier und Johannes Janota zum Augsburger Buchdruck und Verlagswesen (1997) oder Hans-Jörg Künasts „‚Getruckt zu Augspurg‘. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555“ von 1997.

Dass sie den VD 16 (Verzeichnis im deutschen Sprachbereich erschienen Drucke des 16. Jahrhunderts) nicht kennt oder zumindest nicht nutzt, ist unverzeihlich. Aus nahe liegenden Gründen sieht Rieche dann auch Forschungsdesiderate, wo keine sind und führt Dinge aus, die längst bekannt sind. Auch dass sie in ihren Forschungen zum „Katzipori“ über Hauke Stroszecks Dissertation von 1970 „Pointe und poetische Dominante. Deutsche Kurzprosa im 16. Jahrhundert“ und den Kommentar von Kyra Heidemann zu ihrer „Katzipori“-Ausgabe von 1991 kaum herauskommt, ist enttäuschend.

Absolut indiskutabel sind die formalen Aspekte der Arbeit. Sowohl die Fußnoten als auch das Literaturverzeichnis strotzen von Inkonsistenzen und Fehlern. Dazu gehört, dass Untertitel nur gelegentlich aufgeführt sind, ganze Titel fehlen oder doppelt genannt werden, Jahreszahlen inkonsequent aufgeführt werden oder überhaupt fehlen. Auflagen werden genannt oder auch nicht, Titel wie der von Otto F. Best herausgegebene Sammelband „Das Groteske in der Dichtung“ sind unter dem Titel und unter „D“ eingereiht, nur sporadisch wird angegeben, welche Auflage oder Übersetzung benutzt wurde. Frühneuhochdeutsche Texte werden in dieser oder jener Form aufgeführt, Exemplarnachweise werden angegeben oder nicht, Korrespondenzen zwischen Fußnoten und Literaturverzeichnis sind immer wieder falsch, es finden sich Referenzen wie „Quelle: Internet“, zwischen „Ebd.“, „a.a.O.“, Wiederholung des Titels, Kurztitel oder längerem Titel wird munter gewechselt et cetera.

Es gibt wohl keinen Verstoß gegen das wissenschaftliche Zitieren, den Rieche nicht begangen hätte. So unsorgfältig wie das Literaturverzeichnis und die Fußnoten ist der Band insgesamt lektoriert worden: Schon der Klappentext beginnt mit den Worten „Die [!] vorliegende Band …“ und gleich im ersten Abschnitt der Einleitung findet sich die Buchstabenansammlung „unprägna1nte“. Kursivierung von lateinischen und frühneuhochdeutschen Begriffen ist ebenso wenig konsequent durchgeführt wie deren Groß- und Kleinschreibung. Immer wieder stößt man auf Tippfehler, falsche Trennungen et cetera. Auf die für ihre Argumentation wichtigen „freien Knaben“ aus Lindeners Schwanksammlung referiert sie in mindestens sechs unterschiedlichen Formen. In der Fußnote zu „Petro Uffenbach“, der eigentlich Peter Uffenbach heißt, findet man den Eintrag: „Übersetzer der Wundartznei des Ambroise Paré. HIER noch mehr Infos.“ Oder später: „Biographische Informationen werden noch nachgereicht.“ Auch Formulierungen wie „Seit dem 14. Jh. ist Frankfurt Messeplatz für das gesamte Westeuropa, im 16. Jh. entwickelt sich die Stadt zum wichtigsten Umschlagplatz für Bücher heraus“ oder „So wurde das medizinische Wissen beispielsweise ebenfalls benutzt, um den Sinn beispielsweise der Beichte anschaulich zu erläutern. Besonders eindrücklich kann man dies anhand der Beichtlehre der damaligen Zeit zeigen, die in volkssprachigen ‚Beichtspiegeln‘ oder ‚Beichtbüchlein‘ rasche Verbreitung fand, so z.B. der 1534 publizierte vierte Band der Predigtsammlung des berühmten bayerischen Theologen und Vorkämpfers der katholischen Reform, Dr. Johannes Eck“ finden sich allenthalben und zeugen ebenfalls nicht von sorgfältiger Redaktion und weitergehender Reflexion.

Die mangelnde Sorgfalt ist aber keineswegs eine rein formale, sondern erstreckt sich wie in den beiden letzten Beispielen auch auf inhaltliche und argumentative Aspekte der Arbeit. So verzichtet Rieche in aller Regel auf definitorische Bemühungen und setzt Begriffe, die unklar sein könnten, in Anführungszeichen oder verwendet sie einfach kommentarlos als Synonyme. Formulierungen wie „gemeiner Mann“, „Dichter“, „ursprüngliche Bedeutung eines Textes“, „Volksbücher“ in denen „Abenteuer“ erzählt werden, scheinen ihr ebenso unproblematisch zu sein wie „supranational und interdisziplinär“, wenn sie über den Gebrauch der Rhetorik im 16. Jahrhundert spricht. An einer Stelle bezeichnet sie den Topos der Melancholievertreibung als Symbol, wobei im Dunkeln bleibt, warum und wofür das Symbol stehen soll. Hingegen wird erklärt, was ein Pleonasmus ist. Die Kenntnis der verschiedenen Prognostiken und ihrer Autoren aus dem 16. und 17. Jahrhundert wird aber offenbar als bekannt vorausgesetzt.

Für ihre oftmals unpräzisen oder falschen Ausführungen mögen drei Beispiele genügen. In einem Fall heißt es: „Die Zeit vor dem Schmalkaldischen Krieg ist eine der kriegreichsten Zeiten der deutschen Geschichte: Zu erwähnen sind die Hussitenkriege 1419 bis 1436, die Kriege der Eidgenossen mit dem Reich 1443 bis 1450 und Karl dem Kühnen 1476; zahlreiche innere Fehden: Ritterkriege Sickingens 1522 und schließlich der furchtbare Bauernkrieg 1524 bis 1526.“ Abgesehen davon, dass sie offenbar größere Teile der wie auch immer zu definierenden „deutschen Geschichte“ ausblendet, waren die Hussitenkriege in den Jahren 1546/47 bereits 120 Jahre her und fanden auf dem Gebiet des damaligen Königreichs Böhmen statt. Die Burgunderkriege (1474-1476) lagen 80 Jahre zurück und waren eine Auseinandersetzung der Eidgenossen mit dem Burgunder Karl dem Kühnen.

Auch darüber, ob sich die Menschen des 16. Jahrhunderts „derartig von ihrer Umwelt bedroht und in [!] Stich gelassen“ fühlten wie zu keiner Zeit, lässt sich streiten. Die Menschen, die den 30-jährigen Krieg oder die so genannten Weltkriege erlebten, wären wohl anderer Meinung gewesen. Anderes wie die Behauptung „Die ganze zweite Jahrhunderthälfte [des 16. Jahrhunderts] hindurch nehmen die Teufelbücher neben den Schwänken eine führende Rolle im deutschsprachigen Schrifttum und im Buchwesen ein“, ist schlicht falsch. Ebenso, dass Erasmus von Rotterdam „1522 an seinen Basler Verleger Bonifaz Amerbach“ schrieb. 1522 druckte Erasmus kein einziges Werk bei Amerbach, hingegen knapp zwanzig bei Johannes Froben. Die Beispiele ließen sich beliebig mehren.

Es ließe sich noch manches aufzählen, was die Arbeit mehr zu einer ärgerlichen als zu einer lehrreichen Lektüre macht, doch die Beispiele mögen genügen. So bleibt zum Schluss die Frage nach dem Gewinn, den die Arbeit bringt. Dieser ist wohl vor allem darin zu sehen, dass Rieche ein wichtiges Thema aufgegriffen und auf einige wenig diskutierte Texte aufmerksam gemacht hat. Ansonsten zeigt die Arbeit leider vor allem, wie eine Dissertation nicht aussehen sollte.

Titelbild

Juliane Rieche: Literatur im Melancholiediskurs des 16. Jahrhunderts. Volkssprachige Medizin, Astrologie, Theologie und Michael Lindeners "Katzipori".
Hirzel Verlag, Stuttgart 2007.
398 Seiten, 51,00 EUR.
ISBN-13: 9783777615103

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