Der „maschentausendabertausendweite“ Tibetteppich

Barbara Frischmuths Münchner Poetik-Vorlesungen „Traum der Literatur – Literatur des Traums“ sind nach wie vor eine anregende und unterhaltsame Lektüre

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang ist die Lust. Die Lust, die „der Autor beim Schreiben beziehungsweise die Literatur an sich selber hat“ und die im „Genuß beim Lesen“ ihre Entsprechung findet. Doch die Lust am Zuhören war noch vor der Lust am Selberlesen da, „vermittelt durch ein Märchen, das man erzählt oder vorgelesen bekam, Lust, die einen auf ein ‚noch einmal‘ oder ein ‚noch mehr‘ dringen ließ, ohne Rücksicht darauf, wie grausam oder wie herzergreifend die einzelnen Sätze zu einem sprachen“. Nicht weit ist es dann zu einer „Lesegier“, die uns Bücher verschlingen lässt. Denn Genuss hat, so Frischmuth, immer auch etwas mit „Verzehr im Sinne von Einverleibung“ zu tun.

Fast zwei Jahrzehnte ist es inzwischen her, dass eine der vielseitigsten österreichischen Schriftstellerinnen, Jahrgang 1941, in ihren Poetik-Vorlesungen die Träume der Literatur erkundete und in einem kurzen Entree die Literatur als unerschöpfliche Quelle des Genusses deklarierte. Sie verbinden – so will es die Gattung – poetologische Überlegungen zu eigenen Lektüreerlebnissen und Werkstattgespräch miteinander. Dass sie dabei zu dem werden, was für ihre Verfasserin Lesen im besten Sinne bedeutet, nämlich höchsten literarischen Genuss, verdanken die fünf Texte der „assoziativen Nicht-Methode“, mit der Frischmuth über Literatur redet. Sie wählt dafür das (postmoderne) Bild des „Gewebes“ und rollt eine Art „Tibetteppich“ mit einer Vielzahl von Mustern (Traum, Mythos, Geschichte, Weiblichkeit) vor unseren Augen aus.

Was den Traum für die Literatur so attraktiv macht, ist seine Uneindeutigkeit, jenes „Mehr an Bedeutung“, das Traumgebilde zu den „kühnsten Entwürfen“ macht. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Sein und Schein, ist unsicher und allzu oft – Beispiele aus chinesischen Dichtungen wie „Der Traum der roten Kammer“ und „Südliches Blütenland“ belegen dies – halten sich die beiden Welten gegenseitig für eine Illusion. Aber auch Alice aus „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carrol fragt sich aus einem Traum erwachend, in dem sie den schlafenden schwarzen König sah, wer wohl wen geträumt hätte: „‚…einer muß es ja gewesen sein, entweder ich oder der schwarze König. Er kam in meinem Traum vor, gewiß – aber ich doch auch in dem seinen!‘“

Die unterschiedlichen Denkansätze zum Thema Traumverständnis und -deutung von Platon bis Siegmund Freud behandelt Frischmuth anhand Jens Heises Studie „Traumdiskurse“. Doch die besondere Hervorhebung der Romantik, die im Traum „reine Poesie“, ja „eine Universalsprache“, sah, macht unmissverständlich deutlich, wo die Interessen der Autorin liegen: In der Traumform und damit bei den Verfahren, die Träume in Dichtung verwandeln. Herangehensweisen, die den Text durch die Deutung ersetzen und die imaginäre Dimension des Traums unterschlagen, wie die psychoanalytische, werden zusammen mit Elisabeth Lenk, die in ihrem Buch „Die unbewusste Gesellschaft“ das Verhältnis der Literatur zum Traum untersuchte und mehrfach zitiert wird, kritisch betrachtet.

Doch wie soll man das Material, das einem aus dem Traum zugeflogen ist, schriftstellerisch nutzen? Besonders die Portmanteau-Wörter, jene Wortgebilde, die nach Lewis Carroll durch das Ineinanderschieben zweier Begriffe (wie bei Schachteln) entstehen, haben es in dieser Hinsicht Frischmuth angetan. Die kleinen „Geistesblitze“, wie einmalige Wortverdichtungen, die durch ihre „Ungewolltheit“ und „Spontaneität“ glänzen, durchaus betrachtet werden können, entspringen dem Traum und machen deren eigene „Logik“ bewusst. Gleichzeitig demonstriert sie an Texten der Unsinns-Literatur (hier vor allem bei Konrad Bayer), aber auch an einem der eigenen experimentellen Texte aus den Sechzigerjahren – „Turf-Turkey“ ist eine Mischung aus dem Jargon der Pferdesportleute, dem Türkischen und der „Literatur des Traums“ – wie schnell sich auch der genialste Einfall abnützt, wird er inflationär verwendet.

In ihrem vierten poetologischen Text widmet sich Frischmuth den sogenannten „Langexistierenden“ Figuren aus Sagen, Märchen und Erzählungen, die in verschiedenen Literaturen und Büchern wiederkehren und dadurch im literarischen Bewusstsein der Menschen weiterleben. An ihrem Roman „Die Mystifikationen der Sophie Silber“, in dem vor allem Anleihen bei E. T. A. Hoffmann eine tragende Rolle spielen, beleuchtet sie die intertextuellen Bezüge des eigenen Schreibens. Für das Spiel mit Zitaten, Figuren und Szenen sind aber auch Mythen geeignet: Die um die Zwillingsgöttinnen Demeter und Persephone rankenden Geschichten ergaben gleich für drei Romane die Denkfolie – „Die Herrin der Tiere“ (1986), „Über die Verhältnisse“ (1987) und „Einander Kind“ (1990). Der letzte Band interpretiert die eleusinischen Mysterien im Sinne einer weiblichen Ethik des „Einander-Kind-Seins“, abwechselnd und auch im Sinne von „nichtbiologischer Kindschaft“.

Besonders spürbar wird der Genuss, mit dem Frischmuth wohl jedes Buch zur Hand nimmt, wenn die Rede auf den „weiblichen Traum“, nämlich den „von der selbstverständlichen Anwesenheit“ der Frau „in der Literatur, nicht nur als Beschriebene, sondern als Schreibende“, kommt. Vier erzählende beziehungsweise schreibende Frauen haben für Frischmuths Auseinandersetzung mit der weiblichen Vorstellungswelt große Bedeutung: Die japanische Hofdame Murasaki Shikibu (11. Jahrhundert), die mit ihrem Roman „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ als erste in der Literatur den weiblichen Traum, einem Wunschmann das Leben zu geben, verwirklicht hat und sozusagen nebenbei die japanische Literatursprache begründete; die deutsche Mystikerin Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert), die sich als „Eine souveräne Posaune Gottes“ (so ein Artikeltitel von Frischmuth) einer Männersprache bediente, um die männliche Dominanz in der Kirche zu demonstrieren, und die brasilianische Autorin Clarice Lispector, die das Weibliche in ihrer Welt in einer Weise sichtbar machte, „die es als diese Welt Mitbegründendes erkennen lässt“. Die vierte Frau, Schehrezad aus der Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“, ist zwar eine fiktive Gestalt, doch mit ihrem „Erzählen wider den Tod“ gehört sie ohne Zweifel zu den „Ursprungsgöttinnen der Prosa“.

Es ist ein kühner Entwurf, dieser „maschentausendabertausendweite“ Tibetteppich der Barbara Frischmuth, wenn auch vieles emotional vorgetragen und manches nur ungenügend beantwortet wird. Das ist vielleicht ein Nachteil des dezentrierten, nicht-linearen postmodernen Erzählens, zu der Frischmuths Poetik-Vorlesungen nachweislich gehören. Was dieses schmale Bändchen aber bis heute lesenwert macht, ist Frischmuths unkonventioneller Blick auf wohlbekannte Autoren und Werke, die Selbstverständlichkeit, mit der sie Texte vom Rande des Kanons präsentiert und damit ihre dichterische Originalität anerkennt, sowie ihre Skepsis gegenüber überlieferten Lebensmustern und Auffassungen. Und das Schönste an der Lektüre ist, dass man dieses dichte Netz von Bedeutungen mit einer Handbewegung auftrennen und die Gedanken – bleiben wir bei Frischmuths Terminologie – nach belieben weiterspinnen kann. Denn Literatur ist – warum eigentlich nicht – ein Gewebe.

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Barbara Frischmuth: Traum der Literatur - Literatur des Traums. Münchner Poetik-Vorlesungen.
Sonderzahl Verlag, Wien 2009.
125 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783854493075

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