Innere Schönheit

Über Charles Chadwicks feinen Roman „Eine zufällige Begegnung“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die inneren Werte sind das, was zählt“, behauptet der Volksmund – und kaum jemand würde dem wohl widersprechen. Schließlich möchten wir uns doch alle erhaben fühlen gegenüber der Ablehnung und den Vorurteilen, die Menschen erleben, nur weil ihr Aussehen nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht.

Dennoch sind diese Reaktionen allgegenwärtig, wie Elsie, die Protagonistin in Charles Chadwicks jüngstem Roman „Eine zufällige Begegnung“, nur allzu gut weiß. Zeit ihres Lebens hatte sie Tag für Tag damit zu kämpfen, dass sie von Geburt an missgestaltet ist. Ihr Gesicht ist so hässlich, dass sich die Menschen meist nach einem kurzen Blick sofort entsetzt abwenden. Ist sie aufgeregt oder versucht sie gar zu lächeln, wird das Ganze sogar noch schlimmer. Doch Ekel und Abscheu sind nicht nur Reaktionen von Fremden, auch ihre eigene Familie bringt es kaum zustande, ihr direkt ins Gesicht zu sehen.

Kein Wunder also, dass Elsie gewohnt ist, alle Gefühle sorgsam für sich zu behalten und ihre Tage am liebsten allein verbringt. Sie hat sich ein kleines, stilles Leben geschaffen, das ohne große Höhen und Tiefen verläuft: Obwohl sie intelligent und wissbegierig ist, arbeitet sie als Putzfrau in einem Krankenhaus. Trotz der Anspruchslosigkeit ihrer Tätigkeit gibt ihr diese eine gewisse Erfüllung, denn sie liebt Reinlichkeit und Ordnung. Und noch ein weiterer Aspekt der Arbeit macht ihr große Freude. Sie kann dort einsamen alten Menschen Mut zusprechen und ihnen in emotionalen Krisen helfen, ohne dass ihr Aussehen dabei eine Rolle spielen würde.

Sogar für ihre Freizeit hat die findige Elsie einen Weg gefunden, ihr inneres Gleichgewicht zu bewahren und ein wenig Lebensfreude zu genießen, auch wenn sie keine Freunde hat und ihre Familie den Kontakt auf das Nötigste beschränkt. Trotz ihres schmalen Lohns ist sie ist Mitglied des ‚National Trust‘, einer britischen Denkmal- und Naturschutzorganisation geworden, was es ihr ermöglicht, die herrlichen Gärten und Parks herrschaftlicher Anwesen in ganz England zu besuchen, um dort die Schönheit der Blumen und der Schmetterlinge zu bewundern.

Unterstützt wird sie in diesem Hobby von ihrer Mutter, die nur allzu froh ist, ihr schlechtes Gewissen gegenüber der ungestalten Tochter bei deren monatlichen Pflichtbesuchen mit einer kleinen Finanzspritze zu beruhigen. Eines Tages, als sich Elsie wieder einmal widerwillig zu ihrer Mutter aufmacht, trifft sie im Bus zufällig auf einen Mann, der ihr, um sie loszuwerden, erzählt, er habe einen Mann umgebracht.

Doch dieser hat nicht mit ihrer Reaktion gerechnet. Statt schockiert zu sein, bietet ihm die offene und warmherzige Elsie Hilfe und Unterstützung an, als er wenig später in der Klemme steckt. Und so entwickelt sich nach und nach eine merkwürdige Freundschaft zwischen dem ruppigen Ex-Sträfling Stan, der tatsächlich 15 Jahre wegen Mordes abgesessen hat und der einsamen Blumenliebhaberin, bis schließlich Stans kriminelle Vergangenheit ihrem friedlichen Zusammensein in einem abgeschiedenen Cottage ein jähes Ende zu bereiten droht.

Charles Chadwick, der mit seinem ersten Roman „Ein unauffälliger Mann“ als 72jähriger vor zwei Jahren ein furioses Debüt in der englischsprachigen Literaturszene feierte, hat mit dem knapp 200 Seiten umfassenden Nachfolgewerk „Eine zufällige Begegnung“ einen kleinen, aber feinen Roman vorgelegt, der sich klar aus der Masse der alljährlichen Neuerscheinungen abhebt. Unsentimental, aber mitfühlend bringt er uns die Figur der Elsie mit ihrem offenen, warmherzigen und klugen Charakter nahe, sodass wir bereits nach wenigen Seiten mit ihr unter der grausamen Oberflächlichkeit einer Gesellschaft leiden, die Menschen allein nach dem äußeren Schein beurteilt.

Elsies Aussehen bleibt uns als Leser verborgen. Chadwick erspart seiner Figur, en detail vorgeführt zu werden, und so gelingt uns der Blick unter ihr unansehnliches Äußeres, der sonst für die meisten Menschen verborgen bleibt. Nur Stan, der zunächst wie alle anderen Menschen in ihrer Umgebung zu sein scheint, und Lucy, ein kleines Mädchen, das beide in ihr Herz schließen, sehen ebenfalls die wahre Elsie in ihrer inneren Schönheit, die geprägt ist von Großzügigkeit, Toleranz, Fleiß und großem Mut, wie sich letztendlich herausstellt.

Und so führt Chadwick uns auf leisen Pfaden durch seinen intelligenten Roman und lässt wahr werden, was man nach dem ernüchternden Begegnungen der Anfangskapitel für die Protagonisten kaum zu hoffen wagte: Die beiden Außenseiter erfahren tatsächlich so etwas wie ein „Happy End“. Nicht das rauschende, gewaltige wie in Hollywood – aber ein britisches, stilles Vorortglück zwischen Broterwerb, Gartenausflügen und 5 o’ clock tea.

Titelbild

Charles Chadwick: Eine zufällige Begegnung. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Berr.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
207 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872902

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