Im Angesicht des Todes

Mit ihrer Anthologie „Letzte Gedichte“ wappnet Jutta Rosenkranz den Leser nicht unbedingt für den Tod, bereichert aber sein Leben um eine anregende Lektüre

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was geht in uns vor, wenn der Tod uns bevor steht? Das ist eine Frage, wie sie existentieller nicht sein könnte. Sie rührt an eine tiefe menschliche Unsicherheit und ruft in uns Emotionen wie Angst und Trauer hervor. Während der eine die Auseinandersetzung mit dem Tod lieber umgeht, versucht der andere sich auf diese Grunderfahrung vorzubereiten – etwa indem er die Einsichten seiner Mitmenschen zu Rate zieht. Und wer könnte uns feinfühliger, ehrlicher, weiser, tiefsinniger und nicht zuletzt äthetischer von dieser Situation erzählen, als die Poeten?

Schließlich sind es die Dichter, die immer wieder den Diskurs über den Tod aktualisieren und religiös, philosophisch oder individuell geprägte Anschauungen und Herangehensweisen zu diesem Thema bereitstellen. Für viele unter ihnen bedarf die Reflexion über das Ende des Lebens nicht einmal der persönlichen Konfrontation mit dem Tod, etwa durch den Verlust eines nahe stehenden Menschen oder durch Kriegserfahrungen. Vielmehr befassen sie sich häufig schon in vermeintlich unbeschwerten Jugendjahren in lyrischen Texten damit, was sie nach dem Leben wohl erwarte. Viele entwickeln sehr früh Konzepte, dem Tod im Leben zu begegnen – mal optimistischer, mal pessimistischer Natur.

Jutta Rosenkranz hat einen Gedichtband herausgegeben, der das jeweils „Letzte Gedicht“ von mehr als achtzig Lyrikern aus acht Jahrhunderten versammelt. Die aufschlussreiche Biobibliografie der Sammlung offenbart allerdings, dass es sich häufig nicht um das letzte, sondern bloß um eines der letzten Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Wolfgang Hilbig handelt. Wie die Dichter dem Leben, der Welt und der Kunst kurz vor ihrem Tod begegnen, stellt Rosenkranz aber beeindruckend dar.

Ob sie dem Tod nun tatsächlich gewappneter gegenüber stehen als ihre unreflektierten Zeitgenossen, oder ob sie in seinem Angesicht doch alle bisherigen Weltbilder über Bord werfen, eines wird immerhin klar: Der Umgang mit dem Thema ist nun individueller denn je. Der Lyriker Karl Krolow, der nach langer Krankheit mit 84 Jahren den „Reste[n] des Lebens“, gegenübersteht, stellt fest: „Was kann man dem Tod erwidern. / Man bleibt mit ihm allein“.

Vergleichbar düster ist aber auch die Abrechnung mit der Welt des italienischen Dichters Giacomo Leopardi in dem Gedicht „An sich selbst“. Für ihn ist sie nichts als Kot und unendlich nichtige Öde. Der Wiener Ernst Jandl beschreibt sein Leiden kurz vor dem Tod mit nur sieben Worten: „morgengrau / vormittagsekel / sonnenscheinschwarz / mittagserbrechen / nachmittagsblind / abendkrebs / einschlafen.“

Sehr viel optimistischer weiß Theodor Fontane kurz vor seinem Tod, dass der größte Vorzug des Lebens sein Ende sei, und Wilhelm Busch, der ebenfalls ein hohes Alter erreichte, dankt und grüßt in seinen letzten Versen heiter. Bertolt Brecht wünscht sich selbstzufrieden eine Grabinschrift, durch die „wir alle geehrt wären“: „Er [Bertolt Brecht] hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen.“ Für Heiner Müller, der sein schweres Leiden an Speiseröhrenkrebs in „Ende der Handschrift“ beschreibt, wird der Tod zur Heimat, zur göttlichen Melange.

Ähnlich geht es Dichtern, die als Akt der persönlichen Freiheit Selbstmord begingen – so etwa Stefan Zweig, der sich zusammen mit seiner Frau mittels einer Überdosis Veronal vergiftete. Das „Vorgefühl des nahen Nachtens“ verstört ihn nicht mehr, „es entschwert“. Auch die US-amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath zeigt sich in dem Gedicht „Rand“, das sechs Tage vor ihrem Suizid entstand, gelassen: „Die Frau ist vollendet. / Ihr toter Körper trägt das Lächeln des Erreichten.“ Die dreißigjährige Mutter tötete sich mit Küchengas, indem sie nach der Einnahme von Schlaftabletten den Kopf in den Backofen legte.

Ein morscher Ast wird für Hermann Hesse in seinem Gedicht „Knarren eines geknickten Astes“ das Sinnbild seiner Altersschwäche. Wie aus der Biografie zu entnehmen ist, hatte der 85-Jährige beim morgendlichen Spaziergang an einem Zweig gerissen und festgestellt, dass er noch halte – am nächsten Tag starb er an einer Gehirnblutung. Der chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda beschließt seinen Text „Der große Pinkler“ lakonisch mit den Worten „Tschüß! Bis bald!“, und erteilt der Suche nach den Antworten auf die großen Rätsel der Menschheit eine Absage, um sich in ein Land zu verziehen, „wo man [ihm] keine Fragen stellt“. Er war kurz nach dem chilenischen Militärputsch an Krebs gestorben.

Dass die Kunst lang währt, länger als ein Menschenleben, wussten nicht nur Lucius Annaeus Seneca und Johann Wolfgang von Goethe. Für viele Dichter war der Wunsch, die eigene Lebenszeit durch ihr Schaffen zu überdauern, ein enormer künstlerischer Antrieb. Umso erstaunlicher ist, dass der deutsche Dichterfürst Goethe im Gegensatz zu fast allen anderen Dichtern des Bandes den Tod in seinen letzten vier Versen nicht thematisiert. Dabei befindet er sich jedoch in guter Gesellschaft – nämlich der seines Freundes Friedrich Schiller, der es ebenso gut versteht, auch im Angesicht des eigenen Todes in den Sphären des Übermenschlichen zu kreisen: Auch seine letzten Verse preisen die Unerschöpflichkeit von Natur und Kunst.

Zweifel an ihrem bisherigen, christlich-humanistischem Weltbild sind in Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Vielleicht“ herauszuhören. „Vielleicht sind wir doch nicht / Sind wir nicht Gottes Kinder“. Der Romantiker Joseph von Eichendorff dagegen hält in dem Text „Mahnung“, der kurz vor seinem Ableben verfasst wurde, dem christlichen Jenseitsglauben die Treue. Nur bei Gott könne er Erbarmen finden.

Die Lektüre der Anthologie wappnet wohl nicht für den eigenen Tod. Aber sie bereichert das Leben, das Hier und Jetzt, auf schwermütige und sogar auf komische Weise. Denn, um es mit den Worten Erich Frieds zu sagen: „Auch was ich gegen das Leben / geschrieben habe / ist für das Leben geschrieben / Auch was ich für den Tod / geschrieben habe / ist gegen den Tod geschrieben“.

Titelbild

Jutta Rosenkranz (Hg.): Letzte Gedichte. Anthologie.
Manesse Verlag, München 2007.
142 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783717540656

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