Glücklich sein geht anders

Über Tracey Emins Autobiografie „Strangeland“

Von Frauke SchlieckauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Schlieckau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1999: Im britischen Fernsehen läuft eine Talkrunde. Die Gäste sind hauptsächlich Männer. In ihrer Mitte sitzt die Künstlerin Tracey Emin, eine dunkelhaarige Frau, die so schmal ist, dass der Verdacht auf Magersucht naheliegt. Sie wirkt derangiert, der Finger ihrer rechten Hand steckt in einer schmalen Eisenschiene, in der anderen hält sie mit Mühe eine Zigarette. Links von ihr, auf einem Beistelltisch, steht eine Flasche Alkohol, daneben halbleere Gläser.

Tracey Emin sticht heraus aus der seriös schauenden Gruppe auf dem Bildschirm, nicht nur weil sie Künstlerin und eine Frau, sondern vor allem weil sie sehr betrunken ist. Sie versucht vergeblich sich zu artikulieren. Die Männer wechseln pikierte Blicke, gehen mit ihrer Körperhaltung in sichtliche Distanz zu der Betrunkenen. „Ich bin die Künstlerin hier“ lallt Emin, der, völlig umnebelt, die peinlich berührten Reaktionen ihrer Gesprächspartner doch nicht zu entgehen scheinen. „Ich bin betrunken!“ und „Ich gehe jetzt“, wirft sie trotzig in die Runde. Nur ein Teil der Sachen die sie von sich gibt, sind verständlich. „Ihr Typen, habt keine Verbindung mehr zu mir, ihr habt mich verloren, komplett verloren“ wirft sie den anderen vor, die ihr nicht mehr folgen können. Sie versucht sich das Mikrofon vom Pulli zu lösen, steht auf und verlässt das Studio. Eine Szene, bei der man unweigerlich an ein berühmtes Shortbus-Zitat denken muss „I used to want to change the world. Now I just want to leave the room with a little dignity.“

Die gebürtige Londonerin Tracey Emin, ist Teil einer Kunstszene, der „young british artists“, die in den letzten Jahren für Schlagzeilen sorgte und bekannt für ihre autobiographisch geprägte Kunst. Jahrgang 1963, studierte sie bildende Kunst am Royal College of Art, verließ die Kunsthochschule mit dem Master of Art in Paintings, um es kurz darauf, nur ein Jahr später, mit „my Bed“, einer Installation bestehend aus einem „ungemachten Bett, benutzten Kondomen und blutverschmierter Unterwäsche“ auf die Shortlist für den Turner Prize zu schaffen. In ihrer Kunst verarbeitet Tracey Enim ihre privaten Erlebnisse. Ihre Arbeiten sind eine Art Beichte, ihr Leben, ihre Gefühle und Überzeugungen sind ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Leben und Kunst sind bei Tracey Emin untrennbar miteinander verbunden. Ihre Ausstellungen sind zensierte, ausgewählte, aber sehr persönliche Einblicke. Was für ihre Installationen und Bilder gilt, gilt auch für ihren kürzlich erschienenen Roman „Strangeland“. Eine derart offene Autobiografie zu schreiben, wie dieses Buch, ist nur die konsequente Fortsetzung ihrer künstlerischen Arbeit. Das Urteile über ihre Kunst, sie sei, zwischen Tragik und Komik angesiedelt, von fragilem Inhalt und rauher Offenheit, trifft im gleichen Maße auf „Strangeland“ zu. Sich auszudrücken ist ein Grundbedürfnis Emins, was sie mit ihrer Kunst nicht vermitteln kann, versucht sie nun in Worte zu fassen – durchaus unterhaltsam, wenn auch nicht auf besonders hohem literarischen Niveau. Aber darum geht es bei „Strangeland“ auch nicht.

Emin schreibt über Emin. Da darf der berüchtigte Talkshow-Auftritt natürlich nicht fehlen, den sie hier aus ihrer Perspektive schildert. „Das Telefon klingelt. In meinem Kopf klingelt es auch. Wobbly (Gillian Wearing) ist am Apparat. […] Sie legt los und erzählt vom Höhepunkt ihrer gestrigen Nacht: Und obwohl sie sich wahnsinnig über den Turner Prize freute, sei das große Ding des Abends doch mein Fernsehauftritt bei Rock Maiden Rides Out gewesen. ,Ich war doch gar nicht im Fernsehen‘ meine ich. […] Gillian besteht auf ihrer Geschichte: Ich war im Fernsehen, live auf Channel 4, vollkommen abgedreht, meine letzte Bemerkung sei gewesen: ,Ich will zu meinen Freunden. Und jetzt muss ich meine Mum anrufen.‘ […] Ein paar Stunden später sitze ich in einem Cafe in Shoreditch, trinke Kaffee, und fühle mich langsam wieder wie ein Mensch. Ich schlage den Guardian auf. Der absolute Horror. Ich war wirklich im Fernsehen, völlig neben der Spur, im hellbraunen Vivienne-Westwood-Top, als Accessoire hatte ich einen gebrochenen Finger, blutig und bandagiert. […] Ich schalte mein Handy ein. Die elektronische Stimme teilt mir mit, dass ich elf neue Nachrichten habe. Die erste stammt von Angela Bulloch (die auch für den Turner Prize nominiert war), sie lacht. Nur ihr Lachen.“

Was ist das für eine Künstlerin, die fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken in einer landesweit ausgestrahlten Talkshow sitzt? Wer „Strangeland“ liest, kann sich hinterher einiges erklären. Und soviel sei gesagt – der Blackout vor der Kamera gehört noch zu den wenigen harmloseren, fast lustigen Anekdoten in „Strangeland“.

Wer von dem Buch Geschichten aus der Glitzer- und Glamourwelt der Londoner Kunstszene erwartet, wird – abgesehen von einer kurzen Episode, in der Tracey Emin auf einer griechischen Insel auf ihren Geburtstagsgast David Bowie wartet – enttäuscht.

Auch auf ihre zahlreichen Kunstwerke und Installationen geht die Künstlerin nur oberflächlich ein. „Strangeland“ ist ihre Lebensgeschichte, keine kunsthistorische Betrachtung, was zwar einerseits die Besonderheit des Buches ist, andererseits zumindest für jene, die sich mit ihrer Kunst auseinandersetzen möchten, etwas vermissen lässt. Auch klammert „Strangeland“ die letzten Jahre, in denen Emin sich weitestgehend als Erfolgskünstlerin etablierte, aus.

In der Autobiografie setzt sie sich vorrangig mit ihrer schwierigen Kindheit und Jugend, vor allem aber auch mit ihren persönlichen Fehlschlägen auseinander, die bei der Lektüre schnell ein beklemmendes Gefühl hervorrufen. Ein Großteil des Buches beschäftigt sich mit der Zeit vor ihrem kommerziellen Erfolg auf dem Kunstmarkt. Ein wichtiges Thema ist hier vor allem die Beziehung zu ihrer Mutter und ihrem zypriotischen Vater. Emins Roman zeigt ihren Versuch, die Vernachlässigung durch die Eltern zu akzeptieren, auch wenn ihr das in ihrem Buch letztendlich nicht gelingt. Das Bedürfnis die Erzeuger zu glorifizieren, siegt in den meisten Momenten über den Verstand. Neben der Vater-Mutter Beziehung sind Einsamkeit, Heimatlosigkeit und Selbsthass die roten Fäden, die sich eng verschlungen durch die einzelnen Kapitel von „Strangeland“ ziehen. Tracey Emin zeichnet ihr Leben als Vagabundenleben, geprägt von inflationär entwertetem, gefühllos-gewalttätigen Sex. Die zahlreichen Männer in ihrem Leben, Begegnungen, die sie hier nicht zum ersten Mal verarbeitet, sie hat ihnen bereits in ihrer Installation ‚Everyone I have ever slept with 1963-95‘, einem Zelt, in das sie die Namen aller stickte, mit denen sie das Bett teilte, verewigt. In „Strangeland“ gibt sie einigen dieser in Stoff gewebten Namen nun Gesichter. Sex als Bewältigungsmethode: „Strangeland“ zeigt, dass diese Strategie nicht zum Erfolg führen kann. Spätestens hier kommt einem der deutsche Skandalroman des letzten Jahres „Feuchtgebiete“ in den Sinn. Wie auch Charlottes Hauptfigur versucht die junge Tracey Emin den Mangel an seelischer Nähe durch körperliche Experimente auszugleichen. Mal drastisch, mal zart in der Sprache legt Emin ihr Inneres auf gewohnte und doch erstaunlich konsequente Art und Weise offen und wirkt, dort wo „Feuchtgebiete“ oft gewollt konstruiert erscheint, überzeugend. „Strangeland“ ist weit davon entfernt, ein literarisches Meisterwerk zu sein, aber es ist genau das, für das „Feuchtgebiete“ immer gehalten wird: Die Geschichte einer emanzipierten Frau, denn im Gegensatz zu Charlotte Roches Roman taucht hier am Ende kein Krankenpfleger auf, der die angeschlagene Protagonistin rittergleich auf den Gepäckträger seines Drahtesels setzt und nach Hause fährt.

Emins Seelenhaushalt ist mehr als durcheinandergewirbelt, sie flüchtet sich in Alkoholexzesse, kämpft mit Depressionen, sucht Trost in der Kunst der anderen, nicht der eigenen. „Einmal unternahm ich eine etwas andere Pilgerreise: Ich wollte mir Munchs „Der Schrei“ ansehen. Zuvor hatte ich tagelang nur geweint. Meine Augen taten weh davon, sie waren geschwollen und steckten wie zu große Kugeln in meinem Gesicht. Ich hatte seit Wochen nicht richtig geschlafen und gegessen, und dann war ich also hier, in Norwegen, um meinem Lieblingsgemälde Tribut zu zollen. Doch das allein reichte noch nicht; eigentlich war mir danach, mitten ins Bild hineinzuspringen und den Schrei in meinen Armen zu wiegen. Noch so eine verlorene Seele.“

Die Kunst, fremde aber auch die eigene, hat, das wird deutlich, auch eine therapierende Form. Sie hilft Emin „in der Spur zu bleiben“. Mit Erfolg: 2007 bespielte Tracey Emin den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig, zeigte statt autobiografischem Seelenstriptease zarte Zeichnungen. Sie erhielt eine Professur an der European Graduate School in Saas-Fee und wurde von der Royal Academy of Arts zum Mitglied gewählt. Im Frühjahr dieses Jahres widmete das Kunstmuseum in Bern ihr eine Retrospektive. Tracey Emin selbst sagt heute über sich, sie sei nun „an einem sicheren Ort“.

Titelbild

Tracey Emin: Strangeland.
Übersetzt aus dem Englischen von Sonja Junkers.
Blumenbar Verlag, München 2009.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783936738520

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