Vom Glanz des höheren Alters

Zur Amrainer Tetralogie „Baur und Bindschädler“, dem Meisterwerk des Schweizer Autors Gerhard Meier

Von Grazia LindtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Grazia Lindt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorab: Zur Besprechung gelangt hier keine Erstpublikation, sondern die anlässlich des 90. Geburtstages von Gerhard Meier für die umfassende Aufnahme in die Bibliothek Suhrkamp jüngst zu einer Tetralogie zusammengestellten Romane, die bereits früher erschienen sind: „Toteninsel“ (1979), „Borodino“ (1982), „Ballade vom Schneien“ (1985) und „Land der Winde“ (1990). Die jeweils schmalen, dafür literarisch um so gehaltvolleren Bändchen nun in einer Kassette zu präsentieren, ist eine glückliche Entscheidung des Suhrkamp Verlags. Denn der sowohl in seiner Heimat als auch in der Fachwelt hoch geschätzte und durch renommierte Preise für sein Werk vielfach ausgezeichnete Autor Meier harrt zumindest hierzulande noch der Entdeckung durch ein breiteres Publikum.

Dieses bräuchte nur von ihm zu erfahren, um sich in seinen gelungenen und existentiellen Sprachbildern wiederfinden zu können. Ja, finden, denn das schriftstellerische Anliegen von Gerhard Meier ist ein aufgeklärt spirituelles. Seinem Unbehagen am materialistisch geprägten „Allerwelts-Weltbild“ sowie an der Überbetonung der Verstandeswelt in unserem Kulturraum setzt der „Weltbürger aus Niederbipp“ (Kanton Bern), hierin ganz schweizerisches Urgestein, eine eigene Spiritualität entgegen. Sie ist jedem zugänglich, der mit wachen Sinnen für seine unmittelbare Umgebung, mit Liebe zu den Menschen, den Künsten und nicht zuletzt mit Vertrauen in die eigene Intelligenz und Ausdrucksfähigkeit durchs Leben geht. Eben dies verkörpern die beiden, alle vier Bände tragenden Romanfiguren Baur und Bindschädler sowohl in ihren Betrachtungen als auch in ihren sprechenden Namen. Nicht weniger trefflich wirkt das für Menschen einfacher Herkunft als Amrain sinnfällig literarisierte, in der Provinz gelegene Heimatdorf des Autors „am Rande“ des Jurasüdhangs, das aufgrund von dessen kulturgeschichtlichem Ausgreifen bis nach Nordamerika und Russland auch für den Leser zum Zentrum der Welt wird.

Meier erzählt keine Geschichten; er beschreibt Kraftquellen des Lebens als Ergebnis einer aufmerksamen Gesprächskultur. Innerhalb einer bandspezifisch knapp skizzierten, für Inhalt und Verlauf der Dialoge jedoch höchst bedeutsamen Rahmenhandlung geht es stets um Begegnung, die wirkliche, von Seele zu Seele, vom Ich zum Du.

Bindschädler besucht Baur in seinem Dorf. Beide sind über 60 und seit ihrer Aktivdienstzeit in Freundschaft verbunden. Auf der Basis dieser Vertrautheit sowie ihrer gemeinsamen Liebe zum gepflegten Austausch, zur Freiheit des Geistes, zu Kunstwerken, den literarischen vor allem, unterhalten sie sich anfänglich bei einem Spaziergang, später bei anderen Anlässen, über alles, was die konkrete Beobachtung unterwegs oder die Erinnerung an sie heranträgt. Der Gedankenlauf reißt nicht ab, wobei es in der Regel Baur ist, der als Protagonist von seiner jeweiligen Empfindung ausgehend die Themen anschlägt und entwickelt.

Bindschädler hingegen hört zu, greift auf, kommentiert und beschreibt Baur sowie die wechselnden äußeren Umstände ihres Gesprächs. Er rettet, was Baur in den Wind spricht, indem er es zu dem „Buch über nichts“ (Gustave Flaubert) verbindet, das dieser zu schreiben wünscht. „Nichts“ meint das geistig-emotionale Leben, dessen Stellenwert in der Durchschnittsgesellschaft eher gering veranschlagt wird, obwohl es überlebenswichtig ist. Dem widmen sich die beiden Männer um so ausgiebiger und fördern dabei Schätze zutage – Gedanken über Kinder, Künstler, Alte, Staatsmänner, Soldaten, Lebende und Tote, die man nicht mehr missen möchte.

Wie überhaupt in ihrem stets zwanglosen Gespräch alles ineinanderfließt und in seinen möglichen Abhängigkeiten aufscheint, wie Banales, Unscheinbares erhaben wird, und wie die Beobachtungen immer wieder in Erkenntnissen über das Leben gipfeln, die in betörender Geistesfreiheit scheinbar spielerisch gewonnen und dennoch, gerade in den hochpoetischen Sprachbildern, errungen werden. An ihrem Entstehen lässt Meier den Leser auf Schritt und Tritt teilhaben, behutsam, unaufdringlich: das Gespräch erfolgt daher konjunktivisch und impersonal, ist dennoch hervorragend lesbar. Das will gekonnt sein. Ebenso die künstlerische Gestaltung der synergetischen Effekte zwischen Sprache in Wort und Schrift, Sinneseindrücken, Gefühlen, Erkenntnis, Bewusstsein und Erinnerung beziehungsweise Gedächtnis, wobei Meier der Oralität den exklusiven Vorrang einräumt.

Seine beiden Figuren veranschaulichen all dies sinnfällig und in ausgeprägter Individualität, aber ohne lediglich Mittel zum Zweck zu sein. In ihnen reflektiert sich der Autor als Sprecher, Schriftsteller und Leser selbst – gerade so, als wäre er von sprachwissenschaftlichen Prämissen ausgegangen. Das kann nur erstaunen angesichts seines außergewöhnlichen Zugangs zur Schriftstellerei, der er sich als „kleiner Mann“ erst über 50jährig und nach Beendigung jahrzehntelanger Fabrikarbeit widmen konnte. Schreiben war für ihn keine Freizeitbeschäftigung, sondern eine durch und durch lebensbestimmende Angelegenheit. Von daher die Intensität und Schönheit, das Wissen um das Leben, das das Werk durchdringt.

Meier beteiligt sich nicht an der grassierenden Flucht vor dem Altwerden, er stellt sich der Fragilität des Menschen, stellt das Beglückende des Alters heraus wie etwa das Gespür für das Eigentliche, Wesentliche, das Wissen um Grenzen, die innere Freiheit. Ihm gelingt es in unvergleichlicher, an seinen Lieblingswerken und an ebenso nüchterner wie poetischer Naturbeobachtung geschulten Sehweise den Leser mit der Vergänglichkeit, selbst mit dem eigenen Sterbenmüssen zu versöhnen. Das will erst recht gekonnt sein. Weder Todessehnsucht noch -furcht, sondern Gelassenheit als adäquate Haltung angesichts der Unvermeidbarkeit dieses Ereignisses, für das eine Sterbekultur, die diesen Namen verdient, hierzulande erst ansatzweise vorhanden zu sein scheint. Die von Meier erinnerte indianische Kultur wäre auch diesbezüglich zu befragen.

Aus der Amrainer Tetralogie spricht Hochachtung vor den einfachen Menschen, ihrer Verlässlichkeit, ihren ehrbaren Tätigkeiten, ihrem Sprechen in den Wind; für diese vor allem ist sie geschrieben, nicht zuletzt als Denkmal.

Die Kenntnis all der evozierten Werke bildet jedenfalls keine Zugangsvoraussetzung zum Verstehen der Gespräche, wiewohl der Genuß als auch die Wertschätzung der Meier’schen Kunst durch sie zweifelsohne potenziert wird. Doch ganz gleich, in welchem Umfang man sich in der Welt der Künste auskennt, beim Lesen von Meiers Werk wünscht man, sich noch mehr von ihr angeeignet zu haben. Bitter ist dabei die Einsicht, dass auch dazu unsere Lebensspanne zu begrenzt ist. Ein Grund mehr, sich diese Erzählung nicht entgehen zu lassen. Die Welt als Klang? Hier ist sie. Geradezu sinfonisch, von wunderbarer visueller und selbst akustischer Präsenz, immer transparent ist das hier authentisch neuformulierte Wissen um das Leben, um den Kreislaufcharakter all seiner Erscheinungen, für den Meier überdies „Spiralsätze“ geschaffen hat, die ihm eine hohe Wertschätzung eingebracht haben.

Meier hat – mindestens – zwei selbstgewählte Postulate seiner Lieblingsdichter erfüllt: erstens nah am Menschen zu schreiben (wie Robert Walser), und zweitens dabei keinesfalls epigonal zu sein. In der Tat: diese vier Romane bieten eine „erstmalige, neue Schau einer an sich wohlbekannten Sache“, die, wie Marcel Proust es forderte, den Leser ins Staunen versetzen, aus seinen alten Geleisen werfen und ihn gleichzeitig erinnern lassen kann. Aus einem individuellen Impuls heraus von vorn anzufangen, ohne sich von den Bemühungen anderer Autoren hemmen zu lassen – das hat Meier auf sich genommen. Gezeitigt hat er, mit dem „Weltenwind im Gesicht“, ein unvergleichliches Leseerlebnis, zum Glück für uns – nicht in den Wind gesprochen.

Titelbild

Gerhard Meier: Baur und Bindschädler. Amrainer Tetralogie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
543 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783518068823

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