Ohne tiefergehende Deutungen

Das Lessing Yearbook bietet Betrachtungen zur Aktualität eines Aufklärers für unsere Zeit – mit durchwachsenem Ergebnis

Von Jonas ReinartzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Reinartz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Silvestertag des Jahres 1777 schrieb ein resignierender Gotthold Ephraim Lessing in einem Brief an den vor allem als Übersetzer Shakespeares bekannt gewordenen Johann Joachim Eschenburg folgende Worte: „Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“ Zuvor war sein neugeborener Sohn verstorben. Im Leben des Nonkonformisten mag so manches nicht geglückt sein, auch die Relevanz seines Werkes offenbarte sich in aller Gänze erst nach seinem Tode. Bis heute ist sie ungebrochen bestehen geblieben. Zweifelsohne hat er nie den Bekanntheitsgrad der großen Fixpunkte der deutschen Literatur, der „Olympier“ Goethe und Schiller, inne gehabt; diesen und vielen anderen war er jedoch Vorbild und Wegbereiter.

So verfasste er mit „Miss Sara Sampson“ (1755) das erste bürgerliche Trauerspiel deutscher Sprache und legte mit der Wiederbelebung des hierzulande zuvor lediglich von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Joachim Wilhelm von Brawe und Christoph Martin Wieland genutzten Blankverses in „Nathan der Weise“ (1779) den Grundstein für die strenge dramatische Form der Dramatik der Weimarer Klassik. Ein wesentlicher Grund für Lessings Aktualität liegt in dessen allseits unterstrichenem Toleranzgedanken begründet, der vor allem angesichts der spannungsreichen Rezeptionsgeschichte des „Nathan“, gerade in einer breiteren Öffentlichkeit, am ehesten mit seinem Namen verbunden wird. Dieser Aspekt stand auch im Fokus der internationalen Konferenz „Brücken schlagen – Lessing 2000“, welche vom 29. bis 31. März 2007 an der University of Arizona stattfand. Organisiert von der 1966 gegründeten Lessing-Society, stand sie ganz im Zeichen des neuen Forschungsbereiches „Transcultural German Studies“, das heißt der Thematisierung der vielfältigen Beziehungen von Literatur, Kultur und Sprache.

Das vorliegende „Lessing Yearbook XXXVII 2006/2007“ gibt, von einer Ausnahme abgesehen, sämtliche Vorträge wieder. Dabei reicht das Spektrum der behandelten Sujets von Lessings anthropologischen Konzepten, Bühnengeschichte, Freundschaftsideal, Ästhetik bis hin zur Seelenwanderung. So bemerkenswert der Umfang dieses Spektrums auch sein mag, einige Beiträge entfernen sich in einer bisweilen bemüht wirkenden Zurschaustellung der – an dieser Stelle keinesfalls bezweifelten – Modernität Lessings zu weit von den eigentlichen Texten. Dies ist zwar freilich dem Konzept der Konferenz geschuldet, konfrontiert jedoch einen primär an literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen interessierten Leser mit einem durchwachsenen Ergebnis. Das Jahrbuch lässt sich in die Bereiche „Toleranzgedanke“, „Anthropologie“ „Rezeption“ und „Interdisziplinarität“ einteilen, wobei letzterer die qualitativ deutlich hochwertigeren Beiträge bietet.

Die Beiträge von Wilfried Barner, Peter Gossens und insbesondere derjenige von Wolfgang Albrecht mit dem bezeichnenden Titel „Neue Bestimmtheit des Menschen: Ein aufklärerischer Diskurs zur Lessingzeit und 200 Jahre später“ zeigen exemplarisch die problembehaftete Natur der neuen Subdisziplin auf. Wenn sich etwa Albrecht mit Aspekten mit der Gründung der UNESCO und dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschäftigt, so drängt sich der Gedanke auf, dass hier vor allem eines deutlich vermisst wird: die Arbeit am Lessing’schen Text. So lobenswert es auch ist, die üblichen Pfade zu verlassen, so fragt sich der Leser am Ende doch, wen die bisweilen arg konstruiert wirkende Bedeutung des Dichters für heutiges tolerantes Denken überzeugen soll. Gewöhnlich dient ja gerade im schulischen Unterricht die Mordernität dieses oder jenen Schriftstellers als Argument für eine Beschäftigung mit ihm.

Da diese Ebene aufgrund der Platzierung in einem wissenschaftlichen Jahrbuch wegfällt, stellt sich folgende Frage: Wer soll hier überzeugt werden? Muss ein Autor modern sein, damit sich die Lektüre seiner Werke lohnt? Thematisiert wird diese Problematik in den entsprechenden Aufsätzen nicht, Lessing wird lediglich deutlich als prophetische Leitfigur verklärt. Dass die Dinge, vor allem im Frühwerk „Die Juden“ (1749 geschrieben und erst 1754 uraufgeführt), nicht so einfach liegen, hat beispielsweise Peter J. Brenner in seiner Monografie aus dem Jahre 2000 aufgezeigt. Zudem haben sich bei Barners Beitrag zwei Fehler eingeschlichen. Zum einen ist von „Exulanten“ statt „Exilanten“ die Rede, zum anderen wird an einer Stelle die antisemitische Figur des „Michel Stich“ als „Michael Stich“ bezeichnet, also genau wie der gleichnamige Tennisspieler.

Manfred Beetz liefert mit seinem Aufsatz „Lessings Dramaturgie und Dramatik in der anthropologischen Forschung des 20. Jahrhunderts“ einen umsichtigen Forschungsüberblick über die Rolle der Affekte und des Körpermediums bei Lessing, obgleich er, wohl aus Platzgründen, kaum zu eigenen Ergebnissen gelangt. Daher wäre sein – zweifelsohne beachtenswerter und hervorragend geschriebender – Beitrag womöglich in einem Handbuch oder einer vergleichbaren Publikation besser aufgehoben gewesen. Auch Monika Nenon kommt kaum zu neuen Ergebnissen, zumal gerade die von ihr behandelte Freundschafts-Thematik einen Blick in das äußerst reklusive und von einer signifikanten Misanthrophie, selbst gegenüber seiner Gattin Eva König, geprägte Leben Lessings angeboten hätte.

Zwar können Einsichten in die Biografie oft kaum etwas erklären und verursachen häufig Fehlinterpretationen, doch gerade bei Lessing existieren doch erhebliche Diskrepanzen zwischen dem, was er in seinem Werk propagiert hat („Der mitleidigste ist der beste Mensch“) und dem, was er davon tatsächlich praktizierte. Man denke beispielsweise an die für seine Freunde verstörenden, unangekündigten Ortswechsel oder die lange Zeit unterlassenen Hilfeleistungen für seine bedürftige Mutter. Andererseits hätten derlei negative Punkte freilich nicht in das rundum positive Lessing-Bild dieser Aufsatzsammlung gepasst.

Verstärkt wird dieser Eindruck noch in der Auseinandersetzung mit der Rezeption des Schaffens des Dichters. Dieter Fratzkes Beitrag stellt sich, etwas verkürzt formuliert, als reine Werbung für das Lessing-Museum in Kamenz dar. Das ist angesichts der mehr als dreißigjährigen Tätigkeit Fratzkes als Leiter des Museums durchaus verständlich, ebenso dass sein Herz an der Institution hängt – ein wenig mehr Wille zur Reflexion wäre aber dennoch wünschenswert gewesen. So wird etwa die Verwendung der alles andere als sachlichen Biografie aus der Feder von Karl Gotthelf Lessing nicht einmal hinterfragt. Friedrich Nicolai etwa notierte aufgrund einer exemplarischen Übertreibung an den Rand seiner Ausgabe folgenden Satz: „Ist gewiss nicht wahr“.

Ähnliches hätte der Freund Lessings wohl auch über die Rolle des Aufklärers für die Seelenwanderung geäußert, hätte er diese voraussehen können, um in der Sphäre des Übersinnlichen zu verweilen. Als bemerkenswerte Fleißarbeit, wenn auch recht unfruchtbare Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte von Lessings Überlegegungen zur Seelenwanderung entpuppt sich Daniel Cyrankas Aufsatz. Der Grund für die beklagte Vernachlässigung „der Tatsache […], dass Gotthold Ephraim Lessings Name im Reinkarnationsdiskurs eine herausragende Stelle hat“, kommt nicht von ungefähr. Aus Gründen der Vollständigkeit ist eine Beschäftigung mit diesem Aspekt notwendig, im Zusammenhang mit dem Verständnis des Œuvres kommt ihm allerdings nur marginale Bedeutung zu.

Dies lässt sich über die Rolle des Islams im „Nathan“ nicht behaupten, obgleich auch hier, durch Barbara Fischer, erneut der Versuch gemacht wird, das Drama ausschließlich auf den Religionssaspekt zu reduzieren, zumal mit dem aktuellen Anlass 9/11 als Begründung, wogegen ja an sich nichts einzuwenden wäre. Was negativ auffällt, ist eine gewisse Engstirnigkeit. Hinsichtlich der Bühnenrezeption kommt diesem Aspekt ebenfalls eine prominente Rolle zu, jedoch kommt Hans-Peter Bayerdörfer im Wesentlichen über eine lesenswerte Skizze neuerer Lessing-Inszenierungen nicht hinaus. Hier verstärkt sich ein Gefühl, das sich bereits angedeutet hatte. Es scheint, als ob versucht würde, amerikanischen Fachkollegen aufzuzeigen, wie die Bedeutung Lessings für bundesrepublikanische Wirklichkeit ausschaut. Für deutsche Leser stellt sich folglich zwangsläufig eine gewisse Redundanz ein, das Meiste dürfte hinlänglich bekannt sein.

Neues findet man hingegen an anderer Stelle: Der 1766 erschienenen, äußerst wirkmächtigen Schrift „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“ widmen sich Monika Fick und Beate Allert, beide mit äußerst aufschlussreichen Ergebnissen. Die „erste systematische Erörterung zum Verhältnis von Bild und Text“ (Dieter Mersch) und daher gerade für die Medienwissenschaft eminent wichtige Text ist im Laufe der Zeit Gegenstand intensiver Forschungsdiskussion geworden (das entsprechende Kapitel in der 2. Auflage im empfehlenswerten Lessing-Handbuch bietet einen exzellenten Überblick). Fick konzentriert sich auf eine diskursanalytische Deutung des „Laokoon“, um anhand einer kritischen Auseinandersetzung dessen Aktualität darzulegen. Dabei stört sie vor allem an der Interpretation Wellberys, dass Wellbery und andere den Text recht wilkürlich gegen den Strich läsen und entstellten: „Eine Schrift, in der man eine Antizipation des klassischen Kanons der Schönheit erblickte, wird auf einmal zum Hort der Sensationen des Häßlichen“.

Über den Umweg und Vergleich zu Diderot und Goethe, der dessen „Versuch über die Malerei“ (1765) übersetzte und kommentierte (1798/99), lässt sich hingegen überzeugend darlegen, dass Lessings Überlegegungen vielmehr eine Diesseitsfreude und Betonug der Wirklichkeitskonsitution durch sinnliche „Vergegenwärtigung“ auszeichnet. Dem gegenüber fallen die Beiträge von Beate Allert und Anne Schmiesing etwas ab, doch gerade letzterer, in seinem Versuch des weitgehend vergessenen Illustrators Daniel Chodowiecki (1726 bis 1801), der zu Lebzeiten in seinem Metier führend war und etwa „Minna von Barnhelm“ (1767) bebilderte. Bei näherer Betrachtung erweist sich sein Werk nicht als das obrigkeitstreue und unoriginelle Auftragswerk eines „Kleinbürgers“, als das es lange Zeit abgetan wurde. Schmiesings Interpretation macht Lust auf eine tiefergehende Beschäftigung mit Chodowiecki, was doch ganz ihrer Intention entsprechen dürfte.

Die Beiträge des besprochenen Bandes sind also von äußerst unterschiedlicher Qualität. Gerade angesichts der äußerst engagierten Bemühungen hinsichtlich der Bedeutung des „Laokoons“ fallen jene Aufsätze auf, die sich mehr durch Ananeinerreihung kurioser, dabei jedoch auch vergleichsweise unbedeutender Rezeptionszeugnisse beschränken, ohne tiefergehende Deutung.

Dennoch bietet gerade die Spanne der behandelten Themen neue Einblicke in das Schaffen eines Autors, der eben noch viel vom barocken Gelehrtenideal in sich trug und sich dementsprechend betätigte. Vor allem sollte nicht vergessen werden, was zumindest für den Literaturwissenschaftler primär entscheidend ist und hier auch von den besten Beiträgen hinreichend berücksichtigt wird: die Kunst selbst und weniger die Leistungen in anderen Sozialsystemen, um es einmal mit Niklas Luhmann zu sagen.

Titelbild

Steven D. Martinson / Richard E. Schade / Lessing Society (Hg.): Lessing Yearbook/Jahrbuch XXXVII. 2006/2007.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
220 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301160
ISSN: 00758833

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