Verunglimpft als Verräter und Kollaborateure

Barbara Engelking und Helga Hirsch über Polens ambivalentes Verhältnis zu den Juden

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Polen haben sich im Zweiten Weltkrieg gegenüber den bei ihnen lebenden Juden keineswegs nur solidarisch gezeigt, sondern sich gegenüber dem jüdischen Schicksal oft gleichgültig verhalten. Nicht wenige haben sogar Verbrechen an ihnen begangen. Derart unbequeme Wahrheiten wollte man in Polen lange nicht zur Kenntnis nehmen. Schließlich hätten diese Wahrheiten, wie der polnische Politiker Jacek Kuroń glaubt, das im Lande dominierende idealisierte Selbstverständnis infrage gestellt. Dieses Selbstverständnis entstand im 19. Jahrhundert, als der Staat unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt wurde. Es glorifiziert den Aufopferungswillen für „Gott, Ehre und Vaterland“ im Widerstand gegen Fremdherrschaft, propagiert den Heroismus im Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit wie etwa im Warschauer Aufstand von 1944 und sieht Polen aufgrund seines außergewöhnlichen Leidens als „Christus unter den Völkern“. Die Gesellschaft und ihre Repräsentanten seien, glauben viele Polen, aufgrund dieses Selbstverständnisses moralisch integer geblieben. So wurde ein selbstkritisches und differenziertes Denken verhindert oder zumindest erschwert.

Aber Polen war nicht nur Retter und Zuschauer des Holocaust gewesen, sondern auch Täter. Als Ende der achtziger Jahre der Krakauer Literaturwissenschaftler Jan Błoński die These über die Mitschuld der Polen am Völkermord publizierte, war die Empörung groß. Immerhin hatte Błoński damit ein Thema aufgegriffen, das das polnische Selbstverständnis tiefgreifend und emotional wie kein zweites verunsichert und zum Teil auch verändert hat.

Die mit Błoński beginnende Auseinandersetzung dokumentiert der von Barbara Engelking und Helga Hirsch herausgegebene Band. Er enthält wichtige Texte, die die Spannbreite der Argumente, die seitdem in der polnischen Öffentlichkeit ausgetauscht wurden, erkennen lassen. Błoński weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass der Prozentsatz der geretteten Juden in Polen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der niedrigste von ganz Europa gewesen sei, und dass viele Juden nach dem Krieg nicht in Polen bleiben wollten, da es ihnen schwer gefallen sei, unter Menschen zu leben, die ihnen nicht ihr Eigentum zurückgeben wollten, die sie bedrohten und sogar ermordeten. Man denke nur an die Pogrome in Krakau und Kielce. Christen seien zu wenig christlich gewesen. Der Literaturwissenschaftler fordert abschließend ein Schuldeingeständnis mit dem Hinweis, dass alle in Polen „die Pflicht“ hätten, die „Vergangenheit so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit war“.

Auf Błońskis Aufsatz, mit dem der Band nach einer Einleitung der beiden Herausgeberinnen beginnt, reagierten viele mit dem Hinweis, dass nicht nur Juden, auch Polen während der Okkupation ermordet worden seien. Viele Gegenstimmen ließen deutlich erkennen, dass antisemitische und fremdenfeindliche Denkmuster den Krieg überlebt haben, insbesondere in nationalistischen und konservativen Parteien.

Wladysław Sila-Nowicki, der der Heimatarmee angehörte und Mitglied der antikommunistischen Opposition war, warf Jan Błoński vor, er betreibe obsessive antipolnische Propaganda. Außerdem wundert er sich, dass von den Juden, die von den Nazis in die Konzentrationslager geführt worden sind, niemand geflohen sei, „obwohl die Flucht nicht einmal besonders schwierig gewesen wäre“.

Als einige Jahre später, im Jahr 1985 der Film „Shoah“ von Claude Lanzmann gezeigt wurde, kam es in Polen zu einem Schulterschluss ansonsten verfeindeter Kräfte. Die sozialistische Regierung, die katholische Kirche und fast die gesamte Nation, schreiben die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung, reagierten empört und fühlten sich verleumdet.

1994 stand dann der junge Warschauer Journalist Michał Cichy im Kreuzfeuer der Kritik, weil er es gewagt hatte, der polnischen Heimatarmee die Ermordung von Juden während des Warschauer Aufstands anzulasten. Nach der Veröffentlichung seines Artikels war er massiven Angriffen ausgesetzt, denen er psychisch nicht gewachsen war, so dass er im Dezember 2006 öffentlich Selbstkritik leistete.

1998 wurde darum gestritten, ob die Aufstellung von Kreuzen in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz eine legitime Erinnerung an polnische Opfer sei, oder ob sie die Bedeutung des Holocaust herunterspiele. Jüdische Organisationen fürchteten eine „Christianisierung des Lagers“. Immerhin ist Auschwitz für Juden ein Ort ihrer kollektiven Vernichtung. Die polnische Universitätsprofessorin Hanna Swida-Ziemba erklärt in ihrem Beitrag, das Verhalten der Polen mit dem Hinweis, dass die polnische Gesellschaft so absorbiert von den eigenen Tragödien gewesen sei, dass sie nicht mehr fähig gewesen sei, über das Schicksal und die Situation anderer nachzudenken.

Heftige Kontroversen lösten einige Jahre später zwei Bücher des amerikanisch-polnischen Soziologen Jan Tomasz Gross aus. Beide Bücher handeln vom Antisemitismus, der zu Morden an Juden während des Krieges und danach geführt hat. In seinem 2000 erschienenen Buch „Nachbarn“ erinnert Gross an ein Pogrom in der Kleinstadt Jedwabne 1941, wo Polen Juden in einer Scheune verbrannt haben. Sein Buch „Angst. Der Antisemitismus in Polen nach dem Krieg. Die Geschichte eines moralischen Kollapses“ handelt dagegen von schlimmen blutigen Ereignissen, die sich nach dem Krieg in verschiedenen Ortschaften abgespielt haben. Beide Bücher riefen hitzige Diskussionen hervor. Der Historiker Tomasz Strzembosz machte daraufhin – seinen Artikel durften die Herausgeberinnen, wie manch anderen Artikel auch, nicht abdrucken – bei dem Pogrom in Jedwabne geltend, dass Gross die historischen und politischen Umstände nicht hinreichend berücksichtigt habe, die die antijüdischen Haltungen der polnischen Bevölkerung geschürt und begünstigt hätten. Zudem hätten die Juden, so der Historiker, auf breiter Ebene mit der sowjetischen Besatzungsmacht kollaboriert. Zur Gedenkfeier am 10. Juli 2001, dem 60. Jahrestag des Verbrechens hielt Staatspräsident Aleksander Kwasniewski eine viel beachtete Trauerrede, in der er dazu aufforderte, das Entsetzen und die Empörung über diese Tage „in unserem Herzen zu bewahren“. Weder Regierung noch Episkopat hatten einen offiziellen Vertreter geschickt, vielleicht weil polnische Quellen die Verantwortung für den Mord an den Juden in Jedwabne 1941 fast ausschließlich den Deutschen zuschreiben.

Einsichtiger zeigen sich dagegen die Journalisten Stanisław Janecki und Jerzy Sławomir Mac in ihrem mit „Unsere Schuld“ betitelten Beitrag, in dem sie sich bei den Juden entschuldigen und um Vergebung bitten. „Polen sind nicht für den Holocaust, aber für das Schicksal der polnischen Juden während des Holocaust mitverantwortlich“ schreiben sie und zählen die Sünden der Polen auf wie Schweigen, Gleichgültigkeit, Habgier, Feigheit, Undankbarkeit, Abweisung und Antisemitismus.

Im Zentrum des zweiten Buches von Gross – es erschien Anfang 2008 – steht die durch den polnischen Antisemitismus verursachte „ethnische Säuberung“ in den ersten Nachkriegsjahren. Viele seiner Kritiker versuchten, einen Teil der Gewalt gegen Juden politisch zu entschuldigen. Sogar eine Anklage wegen „öffentlicher Verunglimpfung der polnischen Nation“ wurde gegen den in Amerika lebenden Autor erwogen. Nicht wenige seiner Kontrahenten meinten, Gross habe zu schwarz gemalt, so dass seine Ausführungen unnötigerweise zu einer Polarisierung geführt hätten. Die 1968 geborene Journalistin Dominika Wielowieyska, die nach eigenem Bekunden zu jenen gehört, die in den Tagen des friedlichen Übergangs und des Runden Tisches im Jahr 1989 erwachsen geworden sind, wiederum bekennt, dass sie den polnischen Antisemitismus lange unterschätzt habe und dass sich ihre Ansichten über die polnisch-jüdischen Beziehungen inzwischen sehr verändert hätten und dass es nunmehr höchste Zeit sei, den Antisemitismus nicht mehr als Folklore zu behandeln, sondern dass die Polen jetzt endlich ihr Gewissen erforschen sollten. „Wir haben alle auf diesem Gebiet viel zu tun, am meisten jedoch die Würdenträger unserer Kirche“, betont die Journalistin.

Weiter erfährt man aus dem Buch, dass von den knapp 3 Millionen Juden, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Polen lebten, etwa 220.000 bis 300.000 überlebt haben, davon 6.000 bis 7.000 im Versteck. Die Ausreise beziehungsweise Flucht der Juden setzte sich nach dem Ende des Krieges fort. Die meisten trieb der polnische Antisemitismus aus dem Land, der seinen Höhepunkt in dem Pogrom von Kielce im Sommer 1946 mit 39 ermordeten Juden erreicht hatte. Später kam es zu einem weiteren großen Aderlass. Knapp 28.000 polnische Juden reisten nach Israel aus. Die nächste Auswanderungswelle folgte einige Jahre darauf im Zuge des politischen Tauwetters unter Gomulka, weil nun die in Polen lebenden Juden für die Verbrechen und den Machtmissbrauch in der stalinistischen Epoche verantwortlich gemacht wurden. Die Ausreisewelle erreichte ihren Höhepunkt 1957 und zog sich bis 1960 hin und umfasste insgesamt 51.000 Personen. Zur vierten und letzten großen Ausreisewelle polnischer Bürger jüdischer Herkunft kam es infolge des israelisch-arabischen Sechstagekrieges 1967. Heute leben noch etwa 12.000 bis 15.000 Juden in Polen, Kinder und Enkel von Überlebenden, die oft erst nach 1989 ihre kulturellen, religiösen und historischen Wurzeln entdeckten.

Durch all diese Debatten hat das Wissen über das polnisch-jüdische Verhältnis in der polnischen Gesellschaft zwar deutlich zugenommen, aber der Antisemitismus ist längst noch nicht verschwunden. Denn immer noch gibt es Kreise, die offen gegen Juden, Fremde, Homosexuelle und Feministinnen auftreten. In konservativen Kreisen gilt das Eingeständnis von Schuld als unpatriotisch, antipolnisch und unehrenhaft. Das liberale Milieu hingegen fühlt sich dem Geist von Jan Jozéf Lipski verbunden, der in seinen Zeitungsartikeln vor der „patriotischen Phrasendrescherei“ gewarnt und Einsicht in die eigene Schuld gefordert hatte. Der nationale Größenwahn und die Fremdenfeindlichkeit müssten überwunden, zumindest entschärft werden.

Titelbild

Barbara Engelking / Helga Hirsch (Hg.): Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
309 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518125618

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