DOGMAlen nach Zahlen

Kristina M. Schulte-Eversum versucht mit Zahlen zu belegen, wie Dogma 95-Filme durch den Bruch filmischer Konventionen die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion überwinden und eine eigene Hybridform herausbilden

Von Andreas KirchnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Kirchner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elf Jahre ist es her, dass Lars von Triers „Idioterne“ und vor allem Thomas Vinterbergs „Festen“ bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes für Furore sorgten. Und obwohl der Hype um Dogma 95 längst vorbei ist, sind die Nachwirkungen der Filmbewegung noch immer in zahlreichen Independent- und Mainstream-Produktionen manifest. Dass sich Dogma 95 einen festen Platz in der Filmhistorie erkämpft hat, lässt sich nicht nur an Buchtiteln wie der 2008 erschienenen, von Thomas Christen und Robert Blanchet herausgegebenen „Einführung in die Filmgeschichte Band 3: New Hollywood bis Dogma 95“ ablesen, sondern zeigt sich auch an den jüngsten Publikationen zum Thema, das seit dem 10-jährigen Jubiläum des Dogma-Manifests wieder an Konjunktur gewonnen hat.

Eine Sonderstellung unter diesen Publikationen nimmt die 2007 bei UVK erschienene Dissertation „Zwischen Realität und Fiktion. Dogma 95 als postmoderner Wirklichkeits-Remix?“ von Kristina M. Schulte-Eversum ein. Nicht nur, dass die Filmauswahl – im Zentrum der Analyse stehen elf Filme aus neun Ländern gegenüber den bisherigen deutschsprachigen Publikationen außerordentlich international ist und auch unbekanntere Produktionen Berücksichtigung finden. Für eine filmwissenschaftliche Dissertation eher unüblich sind vor allem die umfangreichen quantitativen Anteils- beziehungsweise Feinanalysen ausgewählter Sequenzen und Einstellungen, in denen den (dokumentar-)filmischen Mitteln zur Erzeugung von Authentizität in den Bereichen Kamera, Licht, Montage und Ton nachgespürt wird. Schulte-Eversum macht dabei ausgiebig Gebrauch vom Verfahren der Filmprotokollierung, das vom Gros der scientific community eher als notwendiges Übel angesehen wird.

Diesem praktischen Teil ist ein für die Fülle der behandelten Themen recht knapper theoretischer Abschnitt vorangestellt, in dem neben der Charakterisierung des Untersuchungsgegenstandes das komplexe Verhältnis von Medium und Realität angerissen, grundlegende Begriffe wie Authentizität und Wirklichkeit definiert und die Hybridisierung der Medien thematisiert werden. Im Zuge dessen werden auch die längst veralteten ontologischen Ansätze Kracauers und Bazins kurz referiert, ehe sich die Autorin der konstruktivistischen Perspektive Siegfried J. Schmidts anschließt.

Nicht nur die quantitative Ausrichtung der Untersuchung, auch der schulmäßige Aufbau mit den wiederkehrenden Zwischenfazits, die zahlreichen Diagramme und die umfangreiche Darstellung des methodischen Vorgehens vermitteln dem Leser den Eindruck, man habe es hier mit einem Buch zu tun, das auf besonders solidem Fundament steht. Sozialwissenschaftliche Fakten statt geisteswissenschaftlichen Vermutungen. Vielleicht soll die zur Schau gestellte Methodik aber auch darüber hinwegtäuschen, dass filmwissenschaftliche Kenntnisse nicht die Stärke der Autorin sind. Angesichts des begrenzten Umfangs wird stellenweise in unnötiger Breite Basiswissen rekapituliert, anstatt sich ausführlicher der aktuellen Forschungsliteratur zu widmen. Dazu gesellen sich Ungenauigkeiten in der Verwendung von Fachtermini und zahlreiche grammatikalische und orthografische Fehler, die auch vor großen Namen nicht halt machen – so wird der brav zitierte Béla kurzerhand als „Beller“ Balázs verunglimpft. Nicht minder ärgerlich sind die mitunter dadaistisch anmutenden, den Lesefluss abrupt störenden Abkürzungen einiger Kategorien wie „SSt zw LW“ (für „Schnittstelle zwischen den Lebenswelten“) oder „Str. im B/ Grobk.“ (für „Streifen im Bild/ Grobkörnigkeit“). Insgesamt haben all diese Faktoren zur Folge, dass das Buch wirkt, als wäre es von einer Nicht-Filmwissenschaftlerin für Nicht-Filmwissenschaftler geschrieben worden.

Zentraler als diese Unannehmlichkeiten erscheinen allerdings die folgenden Fragen, die sich dem Leser im Laufe der Lektüre zunehmend aufdrängen: Worin liegt der Nutzen des gewählten Vorgehens? Welchen Erkenntnisgewinn bringt die Studie? Lässt sich das quantitative Forschungsdesign überhaupt sinnvoll auf den Untersuchungsgegenstand anwenden?

Schulte-Eversums ausgeprägter Hang zur Quantifizierung fördert einige eigentümliche (Teil-)Ergebnisse zutage – trotz oder vielleicht gerade wegen eines ausdifferenzierten Kategoriensystems und reflektierter Indexierung. So soll zum Beispiel der Anteil selbstreflexiver Momente (hierfür gelten der Autorin Blicke in die Kamera, Bildverfremdungen, im Bild sichtbares Equipment et cetera) in Bezug auf die Gesamtlaufzeit des Films bei „Festen“ 1,7% betragen. Davon abgesehen, dass es an sich schon problematisch ist, selbstreflexive Momente zu quantifizieren und isoliert vom filmischen Kontext zu betrachten, legen die Zahlen angesichts des von der US-amerikanischen Produktion „Camera“ erreichten Spitzenwerts von 55,3% nahe, dass „Festen“ ähnlich selbstreflexiv sein muss wie James Camerons „Titanic“. Und das, obwohl der Film allein durch seine charakteristische Kameraführung permanent auf seine eigene Konstruktion verweist. Aber: Zahlen lügen ja bekanntlich nicht.

So verwirrend Schulte-Eversums Ergebnisse im Detail sind, so unspektakulär sind sie insgesamt: Authentizität ist nicht gegeben sondern wird konstruiert, die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion sind fließend, die Dogma 95-Filme bedienen sich in unterschiedlicher Gewichtung Elementen aus beiden Bereichen, spielen mit den jeweiligen Konventionen und münden in einem „postmodernen Wirklichkeits-Remix“. Alles nichts Neues.

Es bleibt also die Frage, inwieweit das gewählte Forschungsdesign überhaupt zur Forschungsfrage passt. Dabei liegt das Problem der Arbeit weder in der Verwendung von Einstellungs- und Sequenzprotokollen, die, allerdings mit Augenmaß angewendet, als quantitative Verfahren im filmwissenschaftlichen Methodenarsenal zweifellos von Bedeutung sind, noch in der engen Arbeit am filmischen Text. Im Gegenteil, gerade in der Konzentration auf die angewendeten filmtechnischen Mittel und ihren ästhetischen Niederschlag liegt eine der Stärken der Arbeit, die hier zweifellos von den praktischen Erfahrungen ihrer auch als Kamerafrau arbeitenden Autorin profitiert. Leider verselbständigen sich die quantitativen Verfahren, wodurch beispielsweise die historische Wandelbarkeit filmischer Konventionen und Zuschreibungen in den Hintergrund rückt. Es ist mehr als fraglich, ob es eines derart komplizierten, für das Verständnis teilweise sogar kontraproduktiven methodischen Apparats bedurft hätte.

Vielleicht gibt auch bereits die von der Autorin erkannte Bedeutung von Verfremdungseffekten und Konventionsbrüchen für die Filme der Dogma 95-Bewegung einen Hinweis darauf, dass eine Analyse der filmischen Verfahren, ihrer Funktionen und Motivationen, wie sie Kristin Thompson in ihrer „neoformalistischen Methode“ vorschlägt, dem Gegenstand gerechter geworden wäre. Deren Anwendung hätte sicher zu weitreichenderen Erkenntnissen über den Status der Dogma 95-Filme zwischen Dokumentar- und Spielfilm führen können, als alle noch so ausgeklügelten Vermessungsstrategien.

Titelbild

Kristina M. Schulte-Eversum: Zwischen Realität und Fiktion. Dogma 95 als postmoderner Wirklichkeits-Remix?
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007.
216 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783867640244

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