Lärmterror

Stefan Slupetzky treibt seine Leute in „Lemmings Zorn“ an die Grenze des Erträglichen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Lemming, im bürgerlichen Leben Leopold Wallisch, schlägt offensichtlich einen ruhigeren Weg ein: Die ewigen Single-Zeiten sind vorbei, auch seine Beziehung mit der Tierärztin scheint sich zu verstetigen – ist das der Grund? Ewige Liebe und Treue? Frau respektive Mann des Lebens? Das Alter und seine Neigung zum Konservativen? Nein, um es etwas modifiziert mit Hans Fallada zu sagen: Sie bekommen ein Kind. Nun ist das vielleicht in den Industrieländern seltener geworden als, sagen wir, im 18. Jahrhundert. Aber immerhin noch nicht so selten, dass daraus gleich eine Haupt- und Staatsaktion werden müsste. Doch wer werdende Eltern kennt – vor allem, wenn es das erste Mal ist – , der wird den Wirbel nachvollziehen können, das die beiden Jungeltern um den Nachwuchs machen. Und die Szenerie um Lemming ist auch – zumal in der Vorweihnachtszeit – idyllisch ohne Ende, zuckersüß, überwältigend emotional und voller Erwartung, was die schöne neue Zeit angeht, die nun angebrochen ist.

So etwas würde man einem Autor diesseits der Kitschgrenze keinesfalls durchgehen lassen. Dem Österreicher Stefan Slupetzki hingegen sieht man es nicht nur nach, es wirkt glaubwürdig und gar lesenswert. Die k.u.k.-Küche ist nun mal, auch literarisch gesehen, bei Süßspeisen besonders stark. Was bei der bundesdeutschen Hausfrau als meist misslungener Eierpfannkuchen – pappig, mehlig, überzuckert, immer mit dem falschen Obst – endet, ist in Österreich als Mehlspeise fester Bestandteil einer abgerundeten Vollmahlzeit.

Slupetzkis Gefühlsduselei sei also hingenommen, mitsamt ihren Folgeerscheinungen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Frage des Namens, den das Kinderl bekommen soll, zwischen den Eltern strittig ist, weshalb sie sich an eine unbeteiligte Dritte wenden, Angela Lehner. Diese soll ihnen, wo sie doch schon bei der Geburt hilfreich gewesen ist, mit einem Namen weiterhelfen soll, und es auch tut, weshalb das Hascherl Benjamin heißen darf. Auch nicht schlecht, es gibt schlimmere Namen.

Mit der Idylle geht’s auch noch eine gute Weile so fort, bis denn in der fraglichen Vorweihnachtszeit der Engel Angela notgedrungen auf den kleinen Benjamin aufpassen muss – die eine oder andere Misshelligkeit müssen die Eltern derweil bewältigen. Am Ende des Abends jedoch ist die Frau tot. Ein Selbstmord, wie die herbeigerufene Polizei konstatiert, ein Mord, wie der Lemming mit seiner berühmt-berüchtigten Nase hingegen erschnüffelt.

Ein Mord wird es am Ende natürlich sein, wenngleich einer aus den falschen Gründen und vom falschen Mörder. Die eigentliche Geschichte, die Slupetzki in „Lemmings Zorn“ erzählt, ist die von den Opfern des Lärmterrors. Und der ist gewaltig.

Da ist das Ehepaar, das zur Rente ins ruhige Grüne zieht, um nach wenigen Jahren festzustellen, dass der Flughafen Wiens nicht nur seine Flugfrequenz, sondern auch noch seine Einflugschneise verändert hat. Da sind die Bezirksbewohner, die unter einer Nobelkneipe zu leiden haben, die seit kurzem aufgemacht hat und gleich angesagt ist, was zu ziemlich viel Lärm führt. Da sind die Anrainer einer Bahnstrecke, die mit einem Mal feststellen müssen, dass die Zeiten der gelegentlichen Bummelbahnen vorüber sind. Da sind die Hausbewohner, die über Jahre unter dem Lärm leiden müssen, die beim Ausbau ihres Daches zu einer Nobelimmobilie entstehen. Da ist der Nachbar, der just über die Feiertage – ausgerüstet mit vor allem lärmstarken Equipment – eine neue Regalwand zurechttischlern muss. Wann kommt man sonst dazu?

Kaum dass der Lemming einen kleinen Sohn hat, der – weil er zahnt – besonders schlecht schläft, was dazu führt, dass jede ruhige Minute auch für die Eltern zählt, hört er sich von Lärmquellen umstellt. Einem Lärm zudem, der nicht nur immer dann aufbrandet, wenn ihn überhaupt niemand gebrauchen kann, und am wenigsten Lemming, Frau samt Sohn. Ein Lärm auch, der keinesfalls und nie und nimmer abzustellen ist. Lärm, und besonders dieser Lärm, ist unentrinnbar und unüberhörbar. Wer das kennt, der leidet mit. Wem Lärm schnuppe ist, dem wird auch Lemmings Problem egal sein. Was der sich anstellen kann?

Naheliegend allerdings, dass der Tod des roten Engels mit diesem Lärmproblem zusammenhängt (was darauf hinweist, dass es im Kosmos der Lemminge so etwas wie Lärmresistenz nicht gibt, dass – anders gewendet – nur die Bösen dem Lärm trotzen, ja, dass sie ihn erzeugen).

Das ist – wenn man das, ohne viel zu verraten, sagen darf – eine gewagte Konstruktion, die am Ende zu dem Ergebnis kommt, dass das Böse kein individuelles, sondern ein kollektives, ein allgemeines Problem ist. Es gibt eben kein Entrinnen vor dem Lärm, was dann die Weihnachtsidylle zu einer Art lärmfreien Interregnum zwischen den Zeiten macht, das leider bestenfalls nur Minuten Bestand hat.

Das ist, auch wenn man den Plot nicht übermäßig ernst nehmen will, immer noch eine sympathischere Lösung als jene neomanichäischen Konstruktionen, die keine gesellschaftlichen Ursachen für Mord und Totschlag, sondern den ewigen Kampf zwischen dem Guten und Bösen annehmen, an dem der Mensch nach eigenem Gutdünken nicht rühren soll, außer mit dem elektrischen Stuhl oder der blutigen Rache.

Ob Slupetzki mit seinen ironischen Spielen so weit gehen wollte, wird man mit gutem Recht bezweifeln können. Allerdings wenn es ihm genau darum gegangen ist, dann sei ihm jede Hochachtung gewiss.

Titelbild

Stefan Slupetzky: Lemmings Zorn. Lemmings vierter Fall.
2. Aufl.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2009.
304 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783499248894

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