Sie hätten den Kater längst gegessen

Wie vom GULag erzählen? Gesetzmäßigkeiten des Erfrierens: Warlam Schalamow „Über Prosa“

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anlässlich der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Dennissowitsch“, die später Weltruhm erlangen sollte, schreibt Warlam Schalamow 1962 an den damals noch befreundeten Aleksandr Solshenizyn. Voll des höchsten Lobes und durchdrungen von der epochalen Wichtigkeit der Lager-Schilderungen Solchenizyns weist Schalamow hier und da auf einige unstimmige Details hin. Etwa, dass in Solshenizyns Text ein Kater um die Lagerbarracke streiche. Schalamow notiert: „Unglaublich für ein echtes Lager – sie hätten den Kater längst gegessen.“ Auch dass der Gefangene bei Solshenizyn seine Hände in kaltes Wasser taucht, fällt ihm auf: „Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, und ich kann die Hand nicht in Eiswasser tauchen.“

Schalamow (1907-1982) gilt unter den GULag-Autoren als der große Antipode Solshenizyns. 1929 erstmals verhaftet, verbrachte er ab 1937 unvorstellbare 17 Jahre in den sowjetischen Arbeitslagern, die meiste Zeit davon in der berüchtigten Kolyma-Region im Nordosten Sibiriens. Weitere Jahre Haft kamen dazu. Direkt nach seiner Entlassung beginnt er zu schreiben.

Millionen von Deportierten wurden im sowjetischen GULag ermordet. Die dazu eingesetzte Zwangsarbeit war für die Stalin-Diktatur ein wichtiger ökonomischer Faktor, die Vernichtung im Eis und in den Bergwerken ein Verschleiß am Menschenmaterial. Für die Erfahrung – ein Unwort in diesem Zusammenhang – der Opfer und die „Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens“ unter diesen Bedingungen sucht Schalamow eine literarische Form. Er misstraut der Haltung des Erziehers, der im Namen des menschlichen Ideals spricht, zutiefst. Seine „neue Prosa“ soll mit der auf Belinskij und Tolstoij zurückgehenden humanistischen Roman-Tradition, in der er auch Solshenizyn sieht, brechen: „Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist.“

Schalamow kündigt den moralischen Diskurs zugunsten eines anthropologischen auf. Er sucht keinen Sinn, beschuldigt nicht einmal, er stellt nur fest. Er „dokumentiert“. Dabei erweist sich ihm das humanistische Ideal genau so lange als intakt, bis es seinem Träger bei 50 Grad unter Null rausgeprügelt wird. Verwirklichen will er seine „neue Prosa“ durch „Entfernung alles Überflüssigen“. Das bedeutet nicht nur radikale Reduktion der Beschreibung, sondern auch Verzicht auf jegliche Psychologisierung. Literarische Charaktere sucht man in seinen Erzählungen vergebens. Dabei ist das „Dokument“ nichts weniger als eine Reportage. Der Leser soll der Erzählung glauben „nicht wie einer Information, sondern wie einer offenen Herzenswunde“. Das mag an Franz Kafkas Anspruch erinnern, bei vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele zu schreiben. Jedenfalls entfalten Schalamows Erzählungen eine ähnlich eindrucksvolle Wirkung: Iris Radisch etwa sprach von „einer der intensivsten Leseerfahrungen der letzten Jahre“ und war sich mit ihrem Kollegen Urs Schaub einig, Schalamows Prosa müsse ohne Abstriche zur Weltliteratur gezählt werden.

Alles Höhere am Menschen untersucht dieser Autor mit Blick auf die Qualen des Überlebenskampfes. Trägt es dazu bei, in der Entmenschlichung einen Rest von Anstand zu bewahren, wie er ihn bei den religiösen Lagerhäftlingen beobachtet? Oder beschleunigt es die Zersetzung sogar? Die individuellen Differenzen nehmen sich bescheiden aus: „Damit ein vollkommen gesunder, körperlich kräftiger Mensch zum Invaliden, zum Docht [Scheintoten] wird, braucht es in kundigen Händen nur drei Wochen.“ Und doch überleben, bittere Ironie, die Menschen länger als die besser versorgten Pferde.

Das Bändchen „Über Prosa“ ist als Begleitschrift zu Schalamows erzählerischem Werk zu lesen. Es stellt Aufzeichnungen von Schalamow zu Themen wie Literatur, Gedächtnis und Sprache sowie Briefe an Pasternak, Solshenizyn und andere zusammen. Sie dokumentieren Schalamows Ringen um die Darstellbarkeit des „Lagerthemas“, in dem er, lange vor Giorgio Agamben, die „Kernfrage unserer Epoche“ erkannte. Die Ausblendung des stalinistischen Terrors und die wiederauflebende, nationalistisch gesinnte Stalin-Verehrung in seiner Heimat Russland wirken angesichts von Schalamows narrativen Dokumenten noch makaberer und unterstreichen deren Relevanz.

Ein Verdienst der im Anhang publizierten Anmerkung Joergen Drews unter dem Titel „Lakonie als Ethik“ ist es, darauf hinzuweisen, dass auch bei Warlam Schalamow, wie bei allen Autoren, die Poetologie nicht mit der eigenen Kunst zusammenfällt. Das Erinnern, das Erzählen wie auch das Lesen scheinen von einem „ethischen Impuls“ nicht völlig isolierbar. Worin im Falle Schalamows, so möchte man meinen, ein Glück zu sehen ist.

Man ahnt: Schalamows karge Ich-sage-nicht-mehr-als-was-Menschen-tun-Poetik schreit für den Leser nur umso erschütternder nach der unausgesprochenen Fortsetzung: Nun handle Du anders. Weil diese immer wieder machtlose oder scheinheilige Forderung – das scheint Schalamows Intuition zu sein – meist nur der moralischen Befriedigung des Rezipienten dient, verweigert er sich der humanistischen Literatur so vehement. Und aus dem gleichen Grund wählt er als Wahrheitsmodus für seine Erzählungen die abtötende, sibirische Kälte: klar und stumpf.

Natürlich irrt Schalamow, wenn er meint, eine Ästhetisierung des Bösen bedeute immer dessen Verherrlichung. Es ist ein Thema, das wahrscheinlich selten tiefer diskutiert wurde als im Post-Holocaust-Deutschland seit Adorno und Celan. Er selbst widerlegt dies, indem er etwas Außergewöhnliches zustande bringt: Er überlebt den GULag und widmet sein Lebenswerk dem Schreiben darüber. Und bei dieser unschätzbaren menschlichen Leistung gelingt ihm eine ästhetische, die ebenfalls unschätzbar ist – eine eigene, auf ihrem Niveau selten erreichte, von der Kritik gefeierte Literatur.

Die begeisterten Kommentare zu den ersten zwei Bänden der „Erzählungen aus dem Kolyma“ lassen darauf hoffen, dass dem Gesamtwerk Schalamows, bei Matthes & Seitz Berlin nun erstmals in Deutschland verlegt, große Resonanz beschieden sein wird.

Titelbild

Warlam Schalamow: Über Prosa.
Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein.
Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
143 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882216424

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