Schmerzhafte Aufklärungsarbeit

Soziale Ungleichheit ist nicht nur ein akademisches Thema

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Eine Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes zum Thema „Der Bürger Max Weber“ durchzuführen, hieß selbstverständlich auch, sich nicht nur mit historischen Zusammenhängen zu befassen. Es galt ebenso, sich zugleich mit soziologischen Forschungsergebnissen zum Themenbereich sozialer Ungleichheit auseinanderzusetzen. Und so ging es im Schloss Salem während der vergangenen zwei Wochen für mich und die Seminarteilnehmer nicht nur darum, sich mit den historischen Tatsachen der gesellschaftlichen Rangordnungen der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik im Zeitraum zwischen 1864 und 1920 zu befassen. Es musste auch um die aktuellen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland gehen. Schichtung und Mobilität sind keine allein akademischen Themen, sie entfalten ganz schnell ihre unmittelbare, lebensweltliche Bedeutung für Individuen und ganze Gruppen.

Und darum passierte wieder, was ich schon so oft erlebt habe. Spätestens mit der knappen Rekapitulation der Konzepte des französischen Soziologen Pierre Bourdieu schlug die Stimmung im Seminar um. Was von der Mehrzahl der Studierenden bis dahin eher als akademische Themen wahrgenommen wurde, bekam plötzlich eine unmittelbare Wirklichkeit, die ein Nachdenken auslöste, das bei vielen auch in Wut oder Resignation umschlug – zumindest zu Nachfragen führte.

Beruhigt konnten sich die meisten der Studierenden noch zurücklehnen, so lange es darum ging, nachzuzeichnen, wie sehr ein junger Mann aus „gutem Hause“, wie Max Weber es zu Beginn seines Studiums gewiss gewesen war, schon in seinen Startchancen als „Bürgerlicher“ eingeengt war, durch seine gesellschaftliche Positionierung zwischen der Kaste der Adeligen „über“ sich und der breiten Schicht des Proletariats „unter“ sich. Bei diesen historischen Erörterungen ließ sich noch gut über die Kategorien Stand, Klasse, Schicht diskutieren, über das Dreiklassenwahlrecht im Königreich Preußen, über die sozialen Abstufungen von Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum, von Großbürgertum und Kleinbürgertum, über „Bürgerlichkeit“ als kulturelle Praxis, über den „bürgerlichen Wertehimmel“.

Aber heute, im Jahr 2009, nach der endgültigen Aufhebung der Klassenunterschiede, nach der Auflösung des Adels, nach dem Sieg der bürgerlichen Schichten, da zählen doch alle diese schrecklichen Barrieren des 19. und 20. Jahrhunderts nicht mehr. In unserer „enthierarchisierten Gesellschaft“, in der die „reine Individualisierung“ gilt, da ist es doch alles ganz anders. Ein Student formulierte es, ganz ernst gemeint: „Über uns gibt es doch nichts mehr.“ Dann aber, eher verhalten, folgte die Nachfrage: „oder?“

Und so galt es, den Teilnehmenden einen knappen Abriss soziologischer Forschung zu den Themen Schichtung und Mobilität anzubieten. Vom Zweiklassen-Modell des Karl Marx, über das Konzept der Stände bei Max Weber, über die Legende von der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ bei Helmut Schelsky, über die „Zwiebel“ bei Karl Martin Bolte, über die Mär von der individualisierten „Risikogesellschaft“ jenseits von Klasse und Stand, über die zehn Sinus-Milieus der deutsch-österreichisch-schweizerischen Marktforschung bis hin zu den aktuellen Daten des „Sozioökonomischen Panels“, des Armuts- und des Reichtumsberichts der Bundesregierung: Es galt viel zu vermitteln. Vor allem jedoch die harten Kriterien von Einkommen, Vermögen, Bildung, Macht und Prestige als immer noch brauchbare Indizes zur soziologischen Lokalisierung jedes Individuums in jedem Gesellschaftssystem.

Gerade in Zeiten, in denen viel über das „Prekariat“ und „die Überflüssigen“, über „Globalisierungsgewinner“ und „Globalisierungsverlierer“ diskutiert wird, setzten vor allem die Themen und Befunde Bourdieus das aktive Mitdenken in Bewegung. In seinen empirischen und theoretischen Forschungen ging es um die ungleiche Positionierung von Menschen in diversen gesellschaftlichen Feldern. Wer über viel oder über wenig „ökonomisches Kapital“ verfügt, wird in unterschiedlichen Sektoren verortet. Doch es bleibt nicht beim Geld allein. Die unterschiedliche Ausstattung mit „kulturellem“ und „sozialem Kapital“ führt, zusammen mit dem ökonomischen Kapital, zu einem dreidimensionalen Modell sozialer Ungleichheiten.

Um den Studierenden die Ergebnisse der jahrzehntelangen Forschungen Bourdieus verständlich zu machen, muss man sie dazu anregen, sich selbst anhand dieser Kategorien einzuordnen. Und ganz allmählich dämmerte es in den jungen Köpfen, dass die soziale Herkunft aus den drei zentralen sozialen Schichten – Oberschichten, Mittelschichten, Unterschichten – ihre eigene Positionierung in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft erheblich festlegt. Plötzlich sahen sie an sich selbst und an ihren Nachbarn herunter und erkennen, wie sehr ihr „Habitus“ in ihnen selbst steckt. Ihre Sprache, ihr Kleidungsstil, ihre Konsumgewohnheiten und ihre Freundschaftsbeziehungen machen es soziologisch leicht, die Verortung im Gefüge sozialer Ungleichheiten vorzunehmen.

Und es kam noch schlimmer: Nicht nur die Ausgangschancen von Menschen sind dramatisch ungleich, auch die Möglichkeiten, sich aus der jeweiligen Startposition zu befreien, stoßen recht bald an sehr harte Grenzen. Gerade weil der „Habitus“ in den Körper eingeschrieben ist, müsste man schon seinen eigenen Körper verlassen, zumindest erheblich umgestalten, um sich grundsätzlich neu zu positionieren.

Doch nicht nur jungen Menschen noch vor Beginn ihrer Berufstätigkeit sind solche Wahrheiten zutiefst unangenehm. Derartige kritische Aufklärungsarbeit ist auch vielen Herrschenden nicht sehr genehm. Die Soziologie als „Störenfried“, „Spielverderberin“, „Quertreiberin“ und als kritische Kommentatorin aktueller Gesellschaftsentwicklung muss wachsam bleiben, dass sie im Zuge der laufenden Ökonomisierung und „Nutzbarmachung“ deutscher Hochschulen nicht ebenfalls wegrationalisiert wird.