Begründbare Ethik oder Basta-Vorschriften?

Gerhard Ernst gibt einen höchst lesenswerten Sammelband zum Für und Wider des moralischen Relativismus heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gibt es so etwas wie moralische Objektivität? […] Welche praktischen Folgen ergeben sich aus der Verschiedenheit der moralischen Anschauungen oder sollten sich ergeben? Wie groß ist die tatsächlich zu beobachtende Verschiedenheit überhaupt?“ Das sind die Fragen, mit denen sich die Beiträge eines von Gerhard Ernst herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel „Moralischer Relativismus“ befassen. Und zwar, wie man gleich vorwegnehmen kann, auf ausnahmslos hohem Reflektionsniveau. Selbstverständlich zählen sowohl VertreterInnen wie auch KritikerInnen des moralischen Relativismus zu den Beitragenden des Bands, der auf eine Tagung zurückgeht, die von der „Arbeitsgemeinschaft Relativität“ der „Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina“ im Jahre 2006 in München abgehalten wurde.

Dass die GegnerInnen des moralischen Relativismus überwiegen, hat seine Ursache darin, dass seine BefürworterInnen in der sich mit Fragen der Ethik befassenden wissenschaftlichen community, anders als in der Gesamtgesellschaft, ziemlich rar sind. Unabhängig vom jeweiligen Standpunkt ist es ihrer aller Darlegungskunst zu danken, dass der Band zurecht nicht nur auf das Interesse der im moralphilosophischen Fach Tätigen rechnen kann, sondern auf ein „breites akademisches Publikum“ hoffen darf.

Drei Ebenen der Ethik bilden die Grundlagen für seine Aufteilung: die deskriptive, die metaethische und die normative. Den ersten Teil bestreiten „Vertreter verschiedener empirisch arbeitender Disziplinen“, im zweiten „steht der Status der Moral zur Debatte“ und im dritten ihr Inhalt.

Während es der Herausgeber selbst unternimmt, „das Verhältnis zwischen metaethischem und normativem Relativismus genauer zu bestimmen“, erörtert Franz von Benda-Beckmann das titelstiftende Thema aus „rechtsethnologischer Perspektive“ und legt überzeugend dar, dass Vergleiche nicht beziehungsweise nicht mehr zu „festen Relationen zwischen mehr oder weniger homogenen (ethnisch, religiös, staatlich bestimmten) Ganzheiten und bestimmten moralischen Werten und Normen“ führen. Vielmehr ergeben sich „Verteilungsmengen von gemeinschaftlichen und unterschiedlichen Moralvorstellungen und gelebter Moral innerhalb und zwischen Gesellschaften und Staaten, Personen, Personengruppen“. Es stelle sich daher nicht nur die Frage, wie sich eine andere Kultur und deren Werte zur eigenen verhalten, sondern ebenso, wie sich die miteinander konkurrierenden ethischen Werte und Normen der diversen (Sub-)Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zueinander und zu den jeweils ebenfalls intern miteinander konkurrierenden Werten und Normen anderer Gesellschaften verhalten. Zwar räumt Benda-Beckmann ein, dass sich eine „wirkliche universale Existenz und Geltung“ kaum empirisch ableiten lasse – doch sei das auch gar nicht notwendig, um deren Gültigkeit begründen zu können.

Aus einem allgemeineren Blickwinkel fragt Verena Mayer hingegen, ob das Konzept der „Tugend aus negativer Freiheit“ als „universelle Begründungsstruktur für moralische Normen“ taugt, während Wilhelm Vossenkuhl „vermeidbare und unvermeidbare Relativitäten“ vergleicht und Dieter Birnbach fragt, ob der ethische Pluralismus einen „gangbare[n] Weg“ bietet. Christoph Halbig unterscheidet zunächst drei „Dimensionen“ der Definition des metaethischen Relativismus, deren erste fragt danach, „ob die unterstellte Relativität moralischer Urteile sich auf die Standards des Wertenden oder des Bewerteten richtet“, die zweite danach, worauf sich die behauptete Relativität bezieht und die dritte, „ob der Relativismus für evaluative oder für deontische moralische Urteile geltend gemacht wird“. Wie der Autor zeigt, ist der Relativismus außer Stande, „eine stabile und in sich konsistente Alternative zu Realismus und Nihilismus zu formulieren“. Denn aufgrund der „Struktur seiner Position“ ist er genötigt, entweder den moralischen Realismus zu „restituieren“ oder aber den Nihilismus zu „akzeptieren“. Eher am Rande, jedoch anhand eines gravierenden Beispiels beklagt Halbig, wie sehr der metaethische Relativismus in „unsere alltägliche moralische Praxis ein[zu]sickern und diese in seinem Sinne [zu] verändern“ droht: „Wenn etwa der Leiter von Yad Vashem die Teheraner Ausstellung verharmlosender oder gar verherrlichender Holocaust-Karikaturen als ‚Angriff auf westliche Werte‘ und nicht etwa als schlicht unmenschlich zynisch etc. kritisiert, scheint er seine moralische Bewertungspraxis tatsächlich bereits im Sinne des metaethischen Relativismus umgeformt zu haben.“

Ähnlich überzeugend wie Halbig argumentiert Thomas Schmidt bei seiner Begründung der These, „dass es nicht ohne weiteres möglich ist, eine der relativistischen Grundideen treue kohärente Semantik moralischer Sätze zu entwickeln“. Wie er darlegt, ist die Auffassung „ganz abwegig“, dass mit der objektivistischen Position schon deshalb etwas „nicht stimmen“ könne, weil die von Objektivisten vertretenen moralischen Überzeugungen ganz offensichtlich sehr oft nicht miteinander vereinbar sind. Denn die Behauptung, „dass es objektiv zutreffende Antworten auf moralische Fragen gibt“, beinhalte keineswegs die weitergehende Annahme, es sei stets und ohne weiteres möglich, „sichere und unbezweifelbare Antworten auf moralische Fragen zu geben“. Vielmehr sei es so, dass der Objektivismus überhaupt erst einen „Raum für die Idee moralischer Fehlbarkeit“ eröffnet, weil es seiner Grundannahme zufolge objektive Lösungen auf moralische Probleme gibt.

Gertrud Nunner-Winkler wiederum macht deutlich, dass und warum der moralische Relativismus ein „überzogenes Deutungsmuster“ ist, wobei sie selbst im Anschluss an Bernhard Gert einen „eingeschränkten Universalismus“ vertritt, der nur für einen „eng umgrenzten, aber inhaltlich verpflichtenden Satz von Normen“ universelle Gültigkeit behauptet, zu dem etwa die Unverletzlichkeit der Menschenrechte zählt. All das und einiges mehr legt sie ebenso nachvollziehbar wie plausibel dar. Wenn sie allerdings behauptet, dass sich Gebote wie „‚Du sollst nicht töten, stehlen […]‘ gleichermaßen überzeugend aus Gottes Wort, aus dem Naturrecht oder aus dem Kategorischen Imperativ ableiten“ lassen, verwischt sie den nicht ganz unwichtigen Unterschied, dass Kant seinen Kategorischen Imperativ argumentativ begründet, während die zehnfaltigen ‚Basta-Vorschriften‘ Gottes grundsätzlich auf derlei verzichten.

Gravierender ist allerdings die Missinterpretation, die dem Sozialforscher Hermann Dülmer unterläuft, wenn er sich in seiner empirische Untersuchung mit dem Titel „Moralischer Universalismus, moralischer Kontextualismus oder moralischer Relativismus?“ am Lügenverbot der Kantischen Ethik versucht. Zwar konstatiert er zutreffend, „dass es nach Kant selbst dann nicht zulässig ist, einen Mörder zu belügen, wenn dies mit dem Ziel geschieht, hierdurch das Leben des Opfers zu retten“. Zweifelhaft werden seine Darlegungen jedoch, wenn er fortfährt, die „ausnahmslose Geltung“ dieser negativen Pflicht „verdanke“ sich „Kants immer noch religiös fundiertem Weltbild, nachdem der Mensch allein für rechtes Handeln verantwortlich ist“. Das kann schwerlich überzeugen. Denn Kant leitet das Lügenverbot keineswegs aus einem wie auch immer gearteten „religiös fundierten Weltbild“ ab, sondern daraus, dass eine jede Lüge selbst dann, wenn sie im konkreten Fall unmittelbar keinem anderen Menschen schadet, so doch „der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht“, wie es in der einschlägigen Schrift des Transzendentalphilosophen „Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen“ heißt. Denn selbst wenn Lügende niemand bestimmtem Unrecht tun, so verletzen sie Kant zufolge „doch das Prinzip des Rechts in Ansehung aller unumgänglich notwendigen Aussagen überhaupt […]: welches viel schlimmer ist als gegen irgend jemanden eine Ungerechtigkeit [zu] begehen“. Dies und nicht irgendein was auch immer besagender Gottesglaube ist Kants Begründung dafür, dass ihm die „Pflicht der Wahrhaftigkeit“ als „unbedingte Pflicht“ gilt.

Titelbild

Gerhard Ernst (Hg.): Moralischer Relativismus.
mentis Verlag, Paderborn 2009.
306 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783897853140

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