Kontinent der Vernichtung

Der katholische Priester Patrick Desbois hat für sein Buch „Der vergessene Holocaust“ die Ermordung der ukrainischen Juden erforscht – allerdings ohne die Arbeiten seiner Vorgänger zu erwähnen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt also doch noch Katholiken, die die Shoah nicht leugnen. Patrick Desbois ist französischer Priester. Seit 2002 bereist er mit einem kleinen Team die Ukraine, um Augenzeugen zu finden und zu interviewen, die den Holocaust in ihrer Region noch miterlebt haben. Mit Hilfe von Archivrecherchen in aller Welt, einem Ballistik-Experten, einem Fotografen und einer Dolmetscherin sucht der Franzose nach den Massengräbern, in denen die deutschen Täter ihre Opfer zu Hunderttausenden krepieren ließen. Das waren zunächst einmal alle Juden, die die Invasoren in den russischen Weiten antrafen, vor allem also Frauen und ihre Babys, Kinder sowie hilflose alte Menschen. Manchmal brachten sie hier aber auch sowjetische und italienische Kriegsgefangene um.

Desbois schildert seine persönliche „Spurensuche“ in dem im Berlin Verlag erschienenen Band „Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden“. Es ist kein historiografischer Text, sondern eher ein autobiografisches Buch, das die Gründe offen legt, die Desbois zu seinem Engagement führten. Sein Großvater Claudius Desbois war von den Nazis in die ukrainische Stadt Rawa-Ruska verschleppt worden. Er wollte nie von seinen dortigen Erlebnissen erzählen. Nur soviel gab er seinem Enkel zu verstehen: „Für uns im Lager war es schwer; es gab nichts zu essen, wir hatten kein Wasser, wir aßen Gras, Löwenzahn. Aber für die anderen war es noch schlimmer!“ Bald fand der junge Patrick Desbois in der Stadtbibliothek von Chalon heraus, wer diese „anderen“ waren: „Die anderen, das sind die Juden!“

Das Rätsel um die tatsächlichen Erlebnisse seines Großvaters in jener Gegend östlich der Vernichtungslager im sogenannten Generalgouvernement, dem von den Deutschen besetzten Polen, hat Desbois bis heute nicht losgelassen. Und sein Wissensdrang führte dazu, dass er begann, dort Zusammenhänge zu erforschen, die bisher so noch in keinem Archiv nachzulesen waren und von denen selbst spezialisierte Historiker noch gar nichts wussten – jedenfalls ist das der Eindruck, den man bekommt, wenn man das Vorwort von Arno Lustiger liest. Allgemein bekannt ist der Öffentlichkeit heute bestenfalls das Massaker in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew, wo Paul Blobels Sonderkommando 4a innerhalb von zwei Tagen 33.771 Juden erschoss.

So unfassbar die Zahl der in Babi Jar Getöteten auch erscheinen mag: In Desbois’ Buch kann man nun unter anderem Interviews mit Männern nachlesen, die als Kinder aus der Nähe beobachten mussten, wie die Nazis dort, wo sich heute ein öffentlicher Park inmitten einer Stadt befindet, dem Wald von Lissinitschi, ein Massaker an 90.000 Menschen durchführten. Einer dieser Zeugen, der weniger als einen Kilometer von den über 50 bis heute ungekennzeichneten Massengräbern entfernt wohnt, kehrte mit Desbois zum ersten mal seit 1942 zu Fuß an jenen Ort zurück und sagte nur: „Nein, für mich ist das hier die Hölle.“

Desbois, der seine Interviews immer auch mit Kameras filmen und fotografieren lässt, geht ähnlich vor wie schon vor Jahrzehnten Claude Lanzmann in seinem wegweisenden Film „Shoah“. Er versucht, die Leute auf der Straße spontan anzusprechen und sie mit knappen, freundlichen Fragen zum Reden zu bringen. Im Buch gibt es eine Reihe eindrucksvoller Fotos von Zeugen zu sehen, die dabei weinen oder fassungslos ins Nichts starren. Oft sind es auch solche Menschen, die Desbois dann wie selbstverständlich zu den ‚vergessenen‘ Stellen führen, an denen die Nazis im Zweiten Weltkrieg alle örtlichen Juden umbrachten. Es gibt sie in der Ukraine so gut wie in jedem Dorf.

Neben den Knochen der insgesamt etwa 1,5 Millionen Toten, die dort nach wie vor offen herumliegen, sind es die Patronenhülsen der deutschen Soldaten, die ihre Mörder verraten. Desbois lässt sie mit einem Metalldetektor suchen, zählt sie und vermerkt ihre Fundorte mit Hilfe eines GPS-Systems genau. Da die Täter versuchten, möglichst nur einen Schuss pro Kopf zu ‚verschwenden‘, geben die Zahlen gefundener Patronenhülsen Aufschluss über mögliche Opferzahlen an Orten, die vor Desbois angeblich noch gar kein Historiker auf der Liste hatte.

Deutlich wird in Desbois’ Interviews und seinen zwischengeschalteten Kommentaren die unglaubliche Perfidie und Grausamkeit der Täter, aber auch ihre nahezu perfekte Organisation. Die Deutschen fuhren mit Motorrädern und Lastwagen in die Dörfer und versetzten ihre Opfer mit ihren routinierten Überfällen in eine Art Schockstarre, die dazu führte, dass die meisten Juden nicht einmal mehr zu fliehen versuchten. Alle mussten sich nackt ausziehen, ihr Hab und Gut wurde in Windeseile gesammelt und abtransportiert, und dann führte man sie an irgendwelche Erdlöcher, um sie zügig zu erschießen.

Ihr Tod war eine unglaubliche Qual, da die meisten nur verwundet in die Grube fielen und danach lebendig begraben wurden. Babys, die die Mütter auf den Armen trugen, fielen oft unverletzt mit hinunter. Eine der grausigsten Neuigkeiten in Desbois’ Buch ist es daher, dass sich im Grunde alle Massengräber in der gesamten Ukraine noch mindestens drei Tage nach den Erschießungen bewegten. Aus den Brunnen schrie es, und der Marktplatz des Dorfes Sataniw, unter dem man die Juden des Ortes lebendig eingemauert hatte, bebte noch vier Tage lang. Und zwar, weil die Menschen versuchten, wieder herauszukommen. Deshalb wird in verschiedenen Interviews auch von dem Entsetzen derjenigen Ukrainer erzählt, die gezwungen wurden, die Gräber zu schließen, und die erleben mussten, wie dabei plötzlich eine Kinder- oder Erwachsenenhand aus der Erde fuhr und nach ihrer Schaufel griff.

Desbois beschreibt, wie schwer es für ihn selbst war, das wahre Ausmaß dieses Horrors zu akzeptieren. Dazu gehört auch die lange verleugnete Taktik der deutschen Männer, schöne jüdische Mädchen zunächst doch noch nicht zu liquidieren und sie sich einige Zeit als ‚Sexsklavinnen‘ zu halten. Töten ließ man sie erst, wenn diese „Rassenschande“ zu einer Schwangerschaft geführt hatte.

Das Buch belegt die Methode der Einsatzgruppen, ukrainische Dorfbewohner, meist junge Leute und Kinder, als „Dienstverpflichtete“ bei den Erschießungen einzusetzen. So interviewt Desbois etwa eine Frau, die er etwas reißerisch die „Stampferin“ nennt. Sie wurde als junge Frau dazu gezwungen, nach jeder Salve in die Todesgruben hinabzusteigen und die Verwundeten oder Leichen mit bloßen Füßen festzutrampeln, damit die nächste „Schicht“ besser hineinpasste.

Wenn sich Desbois bei solchen Zeugen und Zeuginnen erkundigt, was sie im Krieg erlebt hätten, fangen sie meist sehr bald an zu erzählen und freuen sich, er sei überhaupt der erste, der sie über 60 Jahre danach endlich einmal nach ihren Ereignissen frage. Man ahnt, dass nicht alle von ihnen nur Opfer sind. Gespenstisch ist etwa die Szene aus dem Dorf Bertniki, in dem die Alten Desbois schweigend nachstarren, bis schließlich doch irgendwer herausschreit, dass einer von ihnen regelmäßig Juden in seinem Haus zu verstecken vorgab, sie dann aber selbst nachts im Schlaf mit Kissen erstickte und ausraubte, um ihre Leichen in den nahen Steinbruch zu werfen.

Wenig anheimelnd wirkt auch die Antwort eines anderen Zeugen von Massenerschießungen auf die Frage: „Was glauben Sie, warum haben die Deutschen die Juden auf diese Weise getötet?“ Nur Leute, die der Wahnwelt des Antisemitismus selbst nicht unbedingt fern sind, sagen darauf: „Wer weiß?! Hitler hat die Juden nicht gemocht, er hat sie überall erschießen lassen, nicht nur hier. Ich weiß nicht, warum er sie nicht mochte.“ Von da aus ist es wirklich nicht mehr weit zu der hier nicht offen ausgesprochenen Ergänzung: „Irgendeinen Grund wird er schon gehabt haben.“ Doch Desbois fragt an solchen Stellen nie genauer nach – warum auch immer.

Als er mit seinen Nachforschungen in der Ukraine begann, dachte der Priester noch, mit ein paar Reisen sei es getan. Das wahre Ausmaß der Massenmorde, die hier eben nicht in Gaskammern, sondern ‚von Hand‘ in jedem einzelnen noch so kleinen Kaff in relativ kurzer Zeit durchgeführt wurden, wird ihm erst nach und nach klar: „Vor meinen Augen wird die Geografie der Ukraine, Dorf um Dorf, von Ost nach West, zu einem Kontinent der Vernichtung“, notiert er. „Ich stelle mir vor, wie die Luftbilder der Ukraine aussähen, wenn man alle Massengräber öffnen könnte. Ein riesiger Friedhof voller namenloser Grabstätten, in die Männer, Frauen und Kinder hineingeworfen wurden. Kein Gräberfeld, ein Gräberland.“

Die wahren Dimensionen dieser Auslöschung zu begreifen heiße, kommenden Genoziden entschlossener entgegentreten zu können, betont Desbois. Denn Völkermorde funktionierten vor allem deshalb, weil die Täter darauf vertrauten, ihre Verbrechen werde später ohnehin keiner mehr glauben. Ganz einfach, weil ihr Ausmaß von Anfang an so monströs geplant war, wie es sich keiner vorstellen mochte. „Kein Völkermörder darf sich jemals einbilden, er könne seine Verbrechen verheimlichen“, fordert dagegen Desbois in seinem Buch. Er wird also weiter deutsche Patronenhülsen sammeln. Es wäre nett, wenn er auch Herrn Ratzinger und seinen skeptischen Freunden von der Pius-Bruderschaft einmal einen Sack davon unter die Nase halten könnte. Es würde fürs erste aber wohl reichen, ihnen einfach einmal sein Buch zu lesen zu geben.

Doch auch an Desbois selbst muss Kritik geübt werden, so verdienstvoll sein Buch auf den ersten Blick auch erscheinen mag: Der Autor verschweigt darin nämlich die Vorgänger, die bereits vor Jahren mit vergleichbaren Nachforschungen in der Ukraine begonnen und Studien darüber veröffentlicht haben. Seltsamerweise scheint auch dem Historiker Arno Lustiger, der das Geleitwort zu Desbois’ Buch verfasst hat, entgangen zu sein, dass etwa schon der Fotograf Henning Langenheim (1950-2004) über dieses Thema gearbeitet hat. Nach der Publikation einer Kurzversion des vorliegenden Artikels in der KONKRET 9/2009 wies mich ein Leser darauf hin, das dieser Autor im Zusammenhang mit seiner umfassenden Arbeit „Memorials“ bereits 1996/97 die Ukraine bereist, einige der dortigen Todesstätten – auch fast unkenntliche – fotografiert und dazu eine Text-Dokumentation verfasst hatte, die unter dem Titel „Mordfelder“ 1999 in Berlin publiziert wurde.

Noch schärfer fiel die Kritik eines Leserbriefschreibers in der Berliner Zeitung aus, auf die mich der Verleger Volker Dittrich – ebenfalls aufgrund jener KONKRET-Rezension – aufmerksam machte. Dittrich selbst hat das Buch „Nur wir haben überlebt – Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse und Dokumente“ des in Kiew lebenden jüdischen Historiker Boris Zabarko verlegt, das in Zusammenarbeit mit Margret und Werner Müller 2004 publiziert wurde. Zabarko selbst habe in Kiew mit Desbois gesprochen und ihm erzählt, dass er „(damals schon) über hundert jüdische Zeitzeugen interviewt habe und diese Dokumente als Bücher veröffentlicht hat“, teilt Dittrich mit. Sogar eine Auswahl in englischer Übersetzung habe Desbois von Zabarko in Kiew erhalten, ohne dass Desbois dies in seinem Buch über den „vergessenen Holocaust“ erwähnen würde.

Werner Müller schrieb deshalb am 27. August 2009 an die „Berliner Zeitung“, Desbois’ Buch nenne sich zwar „Der vergessene Holocaust“, sei aber „weitgehend eine Selbstdarstellung des Priesters Patrick Desbois, der die bereits seit Jahren veröffentlichten Erkenntnisse über den Holocaust in der Ukraine geflissentlich ignoriert. Deshalb vermeidet er es wohl, eine Bibliografie in sein Buch aufzunehmen, weil dann seine These, er habe den Holocaust in der Ukraine ‚entdeckt‘, nicht mehr haltbar wäre. Es ist mir unverständlich, wieso die Historiker, die sich seit Jahren mit diesem Thema befassen, dem Hochstilisieren dieses Buches nicht widersprechen und die bekannten Fakten beim Namen nennen.“ Darüber hinaus spiegele Desbois Erkenntnisse vor, die er, wie etwa die schlicht unmögliche Identifikation der Opfer in den Massengräbern der Ukraine, gar nicht gewonnen haben könne – und ginge überhaupt allzu „leichtfertig“ mit den historischen Fakten um.

Diese wichtige fachliche Kritik zeigt einmal mehr, wie leicht die so immens wichtige Beschäftigung mit dem Holocaust zu unangemessenen Darstellungsformen führen, ja zur anmaßenden Selbstdarstellung verkommen kann – und wie leicht vorschnelle Rezensenten oder selbst angesehene Historiker wie Lustiger Gefahr laufen, übertriebenen Vorspiegelungen angeblicher Forschungsleistungen Glauben zu schenken. Der Redlichkeit halber sollte Desbois zu den schwerwiegenden und berechtigten Vorwürfen seiner Kollegen baldigst Stellung beziehen.

Anmerkung der Red.: Eine kürzere Version dieses Textes erschien bereits in der KONKRET 9/2009.

Titelbild

Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden.
Mit einem Vorwort von Arno Lustiger.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
303 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008268

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