Das Drehbuch seines Lebens

Zum 25. Todestag des französischen Regisseurs François Truffaut

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Sieht man die Aufnahmen, die anlässlich der Beerdigung des Filmkritikers und Drehbuchautors, Regisseurs und Schauspielers François Truffaut gemacht wurden, so kann nicht anders als unweigerlich an Bestattungsszenen aus einem seiner eigenen Filmen zu denken – genauer gesagt aus allen seinen Filmen. Denn das Sterben und der Tod sind zusammen mit der Kindheit und Jugend, der Liebe und Ehe und schließlich der Literatur- beziehungsweise Filmrezeption und -produktion die Themen, die im Mittelpunkt seines gesamten filmischen Schaffens gestanden haben. Es sind diese elementaren Erfahrungen eines jeden Menschen, die Truffaut – ausgehend von seinem eigenen Leben – immer wieder aufgegriffen, miteinander verknüpft und in Szene gesetzt hat.

Am 6. Februar 1932 als ungewolltes Kind heimlich geboren, von Mutter und Stiefvater (von seinem leiblichen Vater, einem jüdischen Zahnmediziner aus Bayonne, erfährt er erst 1968) kaum mehr als geduldet, verbringt der junge Truffaut seine Zeit hauptsächlich außerhalb der Schule, auf den Straßen und in den Kinosälen seiner Heimatstadt. Es ist die Welt der Bücher und Filme, in denen er angesichts der schwierigen familiären Verhältnisse seine Zuflucht sucht. Doch es reicht ihm nicht, Filme nur zu sehen. Um auch über sie zu sprechen, besucht er Filmclubs und lernt in der „Cinémathèque Française“ andere Cineasten und spätere Filmmacher wie Jean-Luc Godard und Éric Rohmer, Claude Chabrol und Jacques Rivette kennen. Ein Bekannter, der Filmkritiker André Bazin, ermuntert ihn zu schreiben. Im Frühjahr 1950 erscheinen Truffauts erste Artikel. Es werden am Ende rund 700 werden, hauptsächlich verfasst für „Arts“ und die von Bazin mitgeleiteten „Cahiers du cinéma“, der damals einflussreichsten Filmzeitschrift.

In seinen Texten, die sich durch einen direkten und stark fokussierenden, gleichzeitig subjektiven und emotionalen Stil auszeichnen, äußert er seine Bewunderung für die von ihm verehrten Regisseure wie Jean Renoir und Max Ophüls, Roberto Rossellini und Orson Welles genauso wie seine Kritik am zeitgenössischen Film. Insbesondere in „Eine gewisse Tendenz im französischen Kino“ (1954) greift er die bekanntesten heimischen Filmemacher und Drehbuchautoren seiner Zeit an. Er wirft der seiner Meinung nach von ihnen vertretenen „Tradition der Qualität“ vor, dass ihre Filme künstlich und unnatürlich, weil durch „literarische“, das heißt wirklichkeitsfremde Dialoge, durch übermäßigen Gebrauch an Studiodrehs und exzessiv aufpolierte Bilder verunstaltet seien.

Über diese Auffassung gelangen er und andere junge Cineasten zur Entwicklung des „Autorenkinos“, das später unter der Bezeichnung „Nouvelle Vague“ Filmgeschichte geschrieben hat. Beeinflusst vom italienischen Neorealismus und dem amerikanischen Kino ihrer Zeit entscheiden sich die jungen Filmemacher damals für einen neuen, realistischen Stil: Sie verlassen die Studios und drehen draußen mit Naturlicht und – als es möglich wird – mit Originalton. Sie meiden anfangs das Engagement von Stars und arbeiten mit kleinem Budget. Neue Entwicklungen, beispielsweise wie die kleiner, tragbarer Kameras, nehmen sie begierig auf.

In diesem Sinne dreht Truffaut nach zwei, drei kürzeren Filmen 1959 auch seinen ersten abendfüllenden Film: „Sie küssten und sie schlugen ihn“ sorgt nach seinem Erscheinen sogleich für frischen Wind in der französischen Kinolandschaft, wird gleichzeitig auch ein finanzieller Erfolg und bringt dem erst 27-Jährigen im selben Jahr in Cannes den Preis für die beste Regie ein. Von diesem Zeitpunkt an bis kurz vor seinem Tod wird er beinahe jedes Jahr einen neuen Film fertig stellen. Nebenbei schreibt er auch Drehbücher für Kollegen wie das für „Außer Atem“ (1959) von Jean-Luc Godard oder „Mata Hari – Agent H.21“ (1964) seines Freundes Jean-Louis Richard. Ferner gibt er ein Buch heraus, das aus einem langen Interview mit einem seiner großen Vorbilder besteht und das auf Deutsch den Titel „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ (1966/deutsch 1973) trägt. Schließlich veröffentlicht er neben ausgewählten Aufsätzen wie die der Sammlung „Die Filme meines Lebens“ (1975/deutsch 1976) auch die Drehbücher beziehungsweise Prosafassungen, sogenannter „Cinéromans“, von einigen seiner Filme.

Nach dem Film „Sie küssten und sie schlugen ihn“, der auf eigenen Kindheits- und Jugenderlebnissen beruht, wird Truffaut fortan hauptsächlich Romane verfilmen. Dabei wechselt der Regisseur, der gleichzeitig auch sein eigener Drehbuchautor ist, immer wieder das Genre. Nach seinem Debüt, an das sich später „Der wilde Junge“ (1969) und „Taschengeld“ (1976), aber auch „Ein hübsches Mädchen wie ich“ (1972) thematisch anschließen, dreht er mehrere Krimis. Zwei nimmt er in Schwarzweiß auf: „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960) und „Auf Liebe und Tod“ (1983) erinnern an französische und US-amerikanische „Gangsterfilme“ aus der frühen Nachkriegszeit. Mit „Die Braut trug schwarz“ (1967) und „Das Geheimnis der falschen Braut“ (1969) verfilmt er dann zwei „Detective Novels“ des Schriftstellers Cornell Woolrich, in denen er sich besonders stark an Hitchcock anlehnt. Schließlich widmet sich Truffaut mit seiner – einzigen englischsprachigen – Verfilmung, nämlich der von Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ (1966) auch der Sparte des dystopischen Science Fiction.

Andererseits realisiert er mit „Jules und Jim“ (1962), „Die beiden Engländerinnen und der Kontinent“ (1971) – beide basierend auf den gleichnamigen Romanen des Schriftstellers Henri-Pierre Roché – sowie mit „Die süße Haut“ (1964) drei Filme, in denen jeweils eine (tragische) Dreiecksgeschichte im Mittelpunkt steht. Zwischen allen diesen Filmen zeichnet er in insgesamt vier längeren und einem kürzeren Film, nämlich im mehrfach erwähnten Erstlingswerk „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (1959), dann in „Antoine und Colette“ (1962), „Geraubte Küsse“ (1968), „Tisch und Bett“ (1970) sowie in „Liebe auf der Flucht“ (1979), das Leben und die Entwicklung des Antoine Doinel nach, der in gewisser Hinsicht ein Alter ego des Regisseurs darstellt. Gespielt wird diese Figur in den zwei Jahrzehnten, die diese „Serie“ schließlich umfasst, von Jean-Pierre Léaud, einem Schauspieler, der wie wenig andere die „Neue Welle“ des französischen Kinos in den 1960er-Jahren verkörpert.

Eine andere auffallende Figur, die vor allem das spätere Werk Truffauts kennzeichnet, ist die der beziehungsweise des einsam Liebenden: Ob nun in „Die Geschichte der Adele H.“ (1975), „Der Mann, der die Frauen liebte“ (1977), „Das grüne Zimmer“ (1978) oder in „Die Frau nebenan“ (1981) – die Protagonisten dieser „Reihe“ suchen stets die absolute Liebe in allen ihren Extremen, wenn sie etwa einer Person hinterherlaufen, die nichts mehr von ihnen wissen möchte und darum umso begehrenswerter wird, wenn sie (Selbst-)Bestätigung in immer neuen Liebschaften zu finden hoffen, wenn sie im Gegenteil dann wieder ihr gesamtes Leben auf einen einzigen – toten – Menschen konzentrieren oder schließlich wenn zwei Liebende nicht ohne, aber auch nicht miteinander sein können.

Schließlich gibt es noch zwei Filme, in denen Truffaut sein eigenes Metier reflektiert, indem er es inszeniert: Neben „Die letzte Metro“ (1980), in der es um den Theateralltag im Paris der Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs geht, ist vor allem „Die amerikanische Nacht“ (1973) von großer kinogeschichtlicher Bedeutung. In diesem oscarprämierten Film steht Truffaut – wie in einigen anderen seiner Filme – auch selbst vor der Kamera. Er spielt einen Regisseur, der unter widrigen Umständen versucht, eine (tragische) Liebesgeschichte zu drehen. Neben professionellen Schauspielern setzt er dabei – wie in fast allen seinen Filmen – auch in diesem eine Vielzahl von Leuten aus seiner tatsächlichen Crew als Akteure ein, so dass „Die amerikanische Nacht“ in mehrfacher Hinsicht ein „Film im Film“ wird. Dabei stellt Truffaut nicht nur den Ablauf der verschiedenen Aufnahmen in den Studios wie auch außerhalb von ihnen mit all den Zwischenfällen nach, sondern stellt sie auch in Wechselbeziehung mit dem Leben der Schauspieler abseits der Dreharbeiten, indem er einen Blick auf ihre Sorgen und Nöte, ihre ganz persönlichen Liebesgeschichten und Schicksale gewährt. Auf diese Weise wird deutlich, wie stark Fiktion und Alltagsarbeit bei diesem Film ineinander übergehen.

Betrachtet man Truffauts filmisches Schaffen schließlich im Ganzen, so kann man in seinem Fall in einem gewissen Sinne von einem Gesamtkunstwerk sprechen – ähnlich der „Menschlichen Komödie“ von Honoré de Balzac, der neben Marcel Proust vielleicht das größte literarische Vorbild des Regisseurs gewesen ist. Seine Filme sind – wie vielleicht nur bei wenigen Regisseuren – in ihrer Art typisch, weil sofort zu erkennen: So werfen sie einen sehr persönlichen Blick auf das Leben, wirken dabei aber äußerst realistisch beziehungsweise haben einen beinahe dokumentarischen Charakter.

In diesem Zusammenhang ist es faszinierend zu beobachten, wie Truffaut seine Filme aufeinander aufbaut. Ein jeder von ihnen steht für sich, betrachtet man jedoch alle zusammen, so entdeckt man zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen. Verknüpft werden sie vor allem durch seine Themen, die in allen seinen Filmen freilich in immer unterschiedlicher Zusammensetzung vorkommen: Eine schwierige, weil konfliktreiche Kindheit und Jugend, spannungsgeladene und unlebbare Partnerschaften, die dauernde Anwesenheit und Beschäftigung mit Sterben und Tod, das Verhältnis von Literatur und Leben zueinander, schließlich die Reflexion über Schauspielerei und Film. Um die engen Verbindungen zwischen seinen einzelnen Filmen auch nach außen sichtbar zu machen, engagiert Truffaut nicht nur oft dieselben Schauspieler für gleiche oder ähnliche Rollen, er montiert auch früher aufgenommenes Material in spätere Filme. Ferner verwendet er dieselben Requisiten, fast gleiche Einstellungen und Schnitte und nutzt immer wieder Paris als Schauplatz für seine Filme.

Neben Paris bilden aber auch viele andere französische Städte wie Nizza in „Die amerikanische Nacht“, Béziers in „Taschengeld“, Montpellier in „Der Mann, der die Frauen liebte“, Honfleur in „Das grüne Zimmer“ oder Grenoble in „Die Frau nebenan“ den Hintergrund für die Geschichten, die Truffaut erzählt. Im Gegensatz zu anderen Regisseuren konzentriert er sich damit nicht auf die Hauptstadt, sondern zeichnet auch ein Bild der Provinz und damit quasi des gesamten Landes – ähnlich den „Scènes de la vie de province“ und den „Scènes de la vie parisienne“ seines Lieblingsautors Balzac, der immer wieder in Truffauts Filmen Erwähnung findet.

Im Gegensatz etwa zu Godard, der ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zunehmend experimenteller und gesellschaftskritischer in seinen Filmen wird, spielt Politik bei Truffaut eine eher untergeordnete Rolle. Er hegt nicht den Wunsch nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft, sondern hat den Anspruch, die Wirklichkeit im Film so authentisch wie möglich erscheinen zu lassen. Daher wirkt Truffauts gesamtes Werk in seiner Darstellung des menschlichen Lebens in all seinen verschiedenen Phasen und extremen Ausformungen zutiefst glaubwürdig. Gleichzeitig spürt man bei seinen Filmen aber auch die große Lust des Drehbuchautors am Konstruieren von und Spielen mit Geschichten und Biografien. Vielleicht ist es gerade die gelungene Mischung beider, von Fiktion und Realität, was seine Filme auszeichnet – und der Grund dafür, warum sie so anziehend sind. In „Warum ich der glücklichste Mensch auf Erden bin“ (1969) schreibt er dazu: „Einen Film zu machen heißt, das Leben zu verbessern, es nach seiner Façon zu arrangieren, das heißt auch, die Spiele der Kindheit zu verlängern, ein Objekt zu konstruieren, das gleichzeitig ein fabelhaftes Spielzeug ist und eine Vase, die man statt mit Blumen mit den Ideen füllt, die einem gerade kommen oder die man schon immer hatte. Unser bester Film ist vielleicht der, mit dem wir es bewußt oder unbewußt schaffen, sowohl unsere Ansichten über das Leben als auch unsere Ansichten über das Kino auszudrücken.“

Das intensive Schaffen, das Truffauts Lebensweg seit dem Erfolg von „Sie küssten und sie schlugen ihn“ kennzeichnet und das ihn aufgrund der Mehrfachbelastung durch die Tätigkeiten als Drehbuchautor und Regisseur, Schauspieler und Schriftsteller mehrmals zu Erholungspausen zwingt, kommt im Sommer 1983 erneut zum Stehen, als bei ihm ein bösartiger Gehirntumor entdeckt wird. Nach einer erfolgreich verlaufenen Operation im selben Jahr beginnt er sich während der Rekonvaleszenz wieder neuen Filmideen und auch dem Projekt einer Autobiografie zu widmen. Doch ein erneuter Rückfall macht ihm jedes weitere Arbeiten unmöglich. François Truffaut stirbt am 21. Oktober 1984 in Paris im Alter von 52 Jahren an den Folgen des Hirntumors. Seine Memoiren kann er nicht mehr vollenden. Sie bleiben Fragment. Ihr Arbeitstitel lautete: „Das Drehbuch meines Lebens“.