Die Zukunft beginnt jetzt

Xiaolu Guo lässt in ihrem Roman „Ein Ufo, dachte sie“ die Modernisierung in einem chinesischen Dorf landen

Von Judith BergesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Berges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 11. September 2012 wird über einem Reisfeld im kleinen chinesischen Dorf Silberberg ein Ufo gesichtet. Die Bäuerin Yun Kwok sieht das unbekannte Flugobjekt und fällt in Ohnmacht. Kaum wieder bei Sinnen, macht Yun die nächste irritierende Entdeckung: ein Fremder – groß, blond, mit vielen Haaren auf den Beinen – liegt verletzt im Reisfeld. Yun nimmt ihn mit nach Hause und verarztet ihn. Als sie für einen Moment das Haus verlässt, verschwindet der Fremde sang- und klanglos. Die naive Yun meldet die Vorfälle der Ortsvorsteherin Chang, die sich durch Zeitungslektüre einige Weltgewandtheit anzueignen versucht und im Unterschied zu den anderen Dörflern, die mehrheitlich Analphabeten sind, ein Studium an der Militärhochschule vorzuweisen hat. Und damit gerät eine Lawine ins Rollen, die das alte Dorf, und dabei auch einige seiner Bewohner, vollständig unter sich begraben wird. Die ehrgeizige Ortsvorsteherin sieht die Chance, ihr Dorf aus der Armut und Rückständigkeit herauszuführen. Ermutigt wird sie dabei durch ein Geldgeschenk von 2.000 Dollar, das der Fremde, der sich brieflich als amerikanischer Tourist zu erkennen gibt, der Gemeinde zum Dank für seine Rettung macht. Reisfelder müssen weichen, damit eine Skulptur am Ort der Ufo-Sichtung errichtet werden kann, gefolgt von einem Supermarkt, einem Tennisplatz und dem Restaurant „Ufos erste Wahl“. Da fürchtet der Fischhändler Li nicht ganz zu Unrecht die Abwanderung seiner Blaukrabben in den fernen Westen. Doch Ortsvorsteherin Chang ist entschlossen: „Wir wollen eine Startrampe für die Zukunft Chinas sein.“

Xiaolu Guo verzichtet auf eine kommentierende Autorenstimme und lässt alle Personen für sich selbst sprechen. Zwei Agenten der örtlichen Polizei kommen ins Dorf und vernehmen die Bewohner zu den Ereignissen. Die Protokolle dieser Vernehmungen, ergänzt um die Aufzeichnungen des Sekretärs der Ortsvorsteherin, Skizzen des Dorfes und die behördlichen Notizen zum Verlauf der Ermittlungen bilden den Roman. Jedem Gesprächsprotokoll sind knappe Angaben zum Alter, Bildungs- und Familienstand und zur politischen Orientierung des Befragten vorangestellt. Es ist erstaunlich, wie viel diese wenigen Informationen in Verbindung mit den Dialogen nicht nur über die erfundenen Figuren, sondern auch über das reale China von heute aussagen. Dass die Drehbuchfassung des Textes bereits preisgekrönt wurde, überrascht nicht. Der Schwerpunkt liegt auf der Story, der Text liest sich schnell und unterhaltsam. Die aufs Äußerste vereinfachte Sprache charakterisiert kurz und treffend Charaktere und Situationen. Schade, dass an einigen wenigen Stellen die Schlichtheit ins Holprige kippt. Was auf den ersten Blick ein wenig vorhersehbar wirkt – natürlich sind alle laut Protokoll „Kommunist“, und natürlich sprechen alle von der Partei wie Kinder von übermächtigen Eltern –, entfaltet eine verblüffend vielschichtige Darstellung von grundlegenden Problemen: nicht alles, was eine Gemeinschaft aus Armut, Analphabetismus und provinzieller Beschränktheit herausführt, dient auch dem Glück des Einzelnen – und man muss sich fragen, was ohne dies noch von der Gemeinschaft übrigbleibt. Andererseits lassen die Erzählungen der Dorfbewohner keinen Zweifel daran, dass sie auch vor den Veränderungen ein elendes Leben führten.

Xiaolu Guo schildert all das mit abgründigem Humor, der die Lächerlichkeit der Bürokratie und des politischen Dogmatismus ebenso ans Tageslicht bringt wie die kleinen Eitelkeiten der Dorfbewohner. Das Ufo am 11. September, der Fremde im Reisfeld, die Geschichten der Dorfbewohner – nicht alle der zahlreichen Handlungsstränge und Anspielungen werden abschließend ausgeführt. Sie bleiben im Raum als Ereignisse stehen, die ohne Ankündigung und Erklärung das Leben der Betroffenen durcheinanderbringen und es ihnen – und dem Leser – überlassen, einen Sinn darin zu entdecken. Der Autorin gelingt es, ernste, aktuelle Probleme humorvoll darzustellen, ohne sie zu verharmlosen. Ihr Buch weckt den Wunsch, mehr über dieses so große und zugleich so kleinteilige China zu erfahren, das Guo hier mit Scharfblick, leichter Hand und äußerst humorvoll zum Sprechen bringt.

Titelbild

Xiaolu Guo: Ein Ufo, dachte sie. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anne Rademacher.
Knaus Verlag, München 2009.
220 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783813503531

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