„Seelenraub“ und Selbsterschaffung

Philipp Theisohn schreibt eine Literaturgeschichte des Plagiats

Von Thomas KupkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kupka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Heros, sagt Joseph Campbell, hat tausend Gestalten. Dramatische Situationen gibt es nach Georges Polti, der einer durch Johann Wolfgang von Goethe überlieferten Idee Carlo Gozzis folgt, sechsunddreißig, und was die Grundformen des Dramas angeht, da sind es nach Aristoteles nur noch zwei: Tragödie und Komödie. Nicht viel Entfaltungsraum für einen tausendgestaltigen Helden, könnte man meinen, zumal er schon bei Campbell auf nur ein begrenztes Arsenal von Handlungslagen festgelegt ist (Aufbruch, Initiation, Rückkehr). Wiederholungen bleiben da nicht aus. Dem kann man motivgeschichtlich nachgehen, wie etwa Horst und Ingrid Daemmrich, die sich dem Reichtum an sich überlagernden und überkreuzenden Themen und Motiven verschrieben haben („Wiederholte Spiegelungen“, 1978; „Themen und Motive in der Literatur“, 1995). Oder man sieht die Literaturgeschichte daraufhin durch, wer von wem abgeschrieben hat. In beiden Fällen hat man es mit den Möglichkeiten und Problemen individueller Selbsterschaffung zu tun: Und zwar der von „Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit“ (Michail Bachtin 1941, deutsch 2008). Im Falle des Plagiats ist dabei besonders, dass diese Selbsterschaffung nicht selten gewissermaßen durch „Seelenraub“ geschieht. So jedenfalls die leitende Annahme des vorliegenden Buches.

Die Frage ist, ob das stimmt. Das Urheberrecht, das für den Schutz gegen solchen Raub zuständig ist, hilft zur Klärung jedenfalls wenig, denn nach § 24 Abs. I UrhG darf „ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, auch ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden“. Entsprechend kommt es kaum zu Verurteilungen – auch nicht dort, wo man es aufgrund eindeutiger und wortwörtlicher Übernahmen eigentlich erwartet hätte. Das war in der Geschichte nicht anders; juristisch bleibt die unauthorisierte Textverwendung meist folgenlos. Zumindest das Recht kann also nicht gemeint sein, wenn der Autor, Literaturwissenschaftler an der ETH Zürich, vielleicht etwas hoch gegriffen mutmaßt, man könne das Plagiat als „,den‘ Prüfstein für die Verortung von Literatur im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Ordnungsentwürfe“ verstehen. Bleibt die zweite Vermutung des Verfassers, nämlich dass im Schatten des Plagiats die Literatur zum Testfeld dafür wird, was der Mensch an sich selbst hat und behalten darf.

Und das war schon früh eine wackelige Angelegenheit. Bereits die Griechen schreiben munter voneinander ab. Philosophisch ist die Mimesis indes nur von Bedeutung, sofern das Nachgeahmte noch teilhat an der „Idee“. Die Lehre dazu entwickelt Platon im Dialog „Phaidon“ (74a ff.), in welchem er die Ideen als vollkommene Vorbilder der Sinnendinge bestimmt, zu denen die Seele, die sie in einem früheren Leben und noch vor ihrem Fall in die körperliche Welt bereits geschaut hat, durch Anamnesis („Wiedererinnerung“) zurückkehrt. Worauf es nun ankommt, ist, das richtige Abbild zu treffen. Denn, so Sokrates im Dialog „Theaitetos“, in allem, was wir wissen und wahrnehmen, „darin dreht und wendet sich die Vorstellung, bald richtig, bald falsch geratend; wenn sie nämlich gerade gegenüber geht und zusammengehörige Abbilder und Urbilder miteinander verbindet, ist sie wahr; wenn sie aber verdreht und kreuzweise verbindet, wird sie falsch“ (194b). Sokratisches Philosophieren aber ist mündlich und nur so zur Anregung der Seele geeignet, die Wahrheit während ihres Daseins im Körper schrittweise zu aktualisieren. Diese Authentizitätsbedingung fehlt der Schrift. Nicht nur die Seele gerät in ihr auf die schiefe Bahn, sondern auch die Wahrheit geht kreuz und quer. Und so sind es vor allem die nur des Spieles wegen bepflanzten „literarischen Blumenkästen“ (oder „Schriftgärtchen“), die den Sokrates besorgen („Phaidros“, 274b ff). Mithin gehört Platon gerade nicht zu den „philosophischen Wurzeln“ des Plagiats, wie der Autor insinuiert.

Nun gehört es freilich zu den Paradoxien der platonischen Philosophie, dass Platon, der so vehement gegen die Schrift zu Felde zog, selbst einer der größten Schreiber war. Und dass er nicht zimperlich dabei vorging, sich fremdes Gedankengut anzueignen, wird seit alters kolportiert. Wie er es mit seiner eigenen Seele dabei nahm, ist uns nicht überliefert. Die Griechen jedenfalls beherrschen das Spiel mit der Schrift, und urheberrechtlich, soweit wir diesen Begriff bereits verwenden dürfen, ist nur der direkt im Privatbesitz des Autors befindliche Text vor Drittbenutzung geschützt.

Dadurch entstand bekanntlich ein einzigartiger Fundus an literarischen und philosophischen Vorlagen. Von hieraus ist die Literaturgeschichte einigermaßen zügig erzählt. Kein römischer Dramenschreiber oder Philosoph macht etwa einen Hehl daraus, sich bei den Griechen zu bedienen und es herrscht bisweilen fröhlicher Eklektizismus. Die Verchristlichung der griechischen Philosophie in der Spätantike führt dann zur Vereinnahmung der platonischen Ideenlehre und (etwa bei Augustinus) zur Umwidmung der Seele zum Erkenntnisorgan des einen Schöpfer- und Erlösergottes. Schon konzeptionell kann die christliche Literatur eigentlich nicht plagiieren. Stattdessen gehts ums „richtige“ Kopieren. Und nur wer sich darauf versteht, hat die göttliche Lehre wirklich verinnerlicht. Das führt zu weitgehend redundanten Überlieferungsketten, in denen der Autor lediglich als Überbringer der göttlichen Botschaft wahrgenommen wird. Bonaventuras viel zitiertes Diktum von den „vier Weisen, ein Buch zu machen“ unterscheidet zwar den „auctor“, der Eigenes schreibt, vom „scriptor“, der den religiösen Fremdtext überliefert, doch bleibt Ersterer stets an die rückversichernde Bestätigung („confirmatio“) des theologischen Kanons gebunden. Das ist folgenreich auch für die weltliche Dichtung. Der höfische Romancier „erfindet“ nicht, sondern er berichtet und hält sich an die Vorlagen. Und das sind ab dem 12. Jahrhundert wieder die antiken Erzählstoffe. Das gilt ebenso für die mittelalterliche Epik, der zunächst der trojanische Sagenkreis Pate steht. Noch in der Reformationszeit gilt der getreu übertragene Text als rechtmäßige Teilhabe am guten Werk. Von ehrenrührigem Seelenraub also keine Spur.

Die Aufklärung erdenkt das Subjekt und der industrialisierte Buchdruck sorgt für Textstabilität. Die Philosophie ermöglicht das Ausprobieren von Selbstbestimmung und der Körper der Literatur erhält eine Seele, die nun eine individuelle ist. Die lässt sich über den Buchmarkt unbegrenzt vervielfältigen – ein wunderbares Geschäft, das wiederum von einer ganz speziellen Voraussetzung zehrt: Der Idee des Originals. All das zusammen macht den Autor, wie wir ihn heute kennen, einen, der einen Namen hat. Gotthold Ephraim Lessings „Freigeist“, so blättert Theisohn das Buch der Plagiatserzählungen weiter, bahnt dann den Weg fürs Genie. Das ist aus der Natur. Oder wie Kant für die schöne Kunst vierzig Jahre später sagt: „Genie ist die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ („Kritik der Urteilskraft“, § 46). So in etwa ergeht es auch Goethes „Prometheus“, der zugleich die Götter entthront, wohingegen der junge Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Gottlieb Fichtes absolutem Ich folgend, Gott zurück an den Anfang setzt. Erst Georg Wilhelm Friedrich Hegel sorgt für eine gewisse Entradikalisierung. Ein „idealischer Anfang“ in Kunst und Poesie jedenfalls ist ihm verdächtig. Vielmehr muss das Genie „viel gesehen, viel gehört und viel in sich aufbewahrt haben“ („Ästhetik“ I, Teil I, 3. Kap., C 1 a). Das passt dann auch für die Wissenschaft.

Man sieht also bald, auch die schöpferische Einbildungskraft ist keine creatio ex nihilo. Um es hermeneutisch zu sagen, und durchaus nochmal mit Hegel: Ohne „Besonnenheit, Sonderung und Unterscheidung“ vermag der Künstler nicht gestalten. Ebenso wenig der Wissenschaftler. Wer Wissen verbreiten will, der muss es sich zunächst aneignen. Oder anders gewendet: Originalität im Denken entsteht durch aufgeklärte Erziehung, Belehrung, Lektüre. Und so führt der Weg zur Originalität, wie Theisohn an vielfältigen Beispielen darlegt, nicht selten über eine massive intellektuelle Verschuldung. Wenn aber der Debitor den Kreditor nicht einmal erwähnt, ist das nicht so schön. Es sei denn, man ist Anhänger der deutschen Romantik, für die Friedrich Schlegel „Symphilosophie“ und „Sympoesie“ erfindet und damit gewissermaßen den theoretischen Unterbau für universales Plagiieren. „[E]ine ganz neue Epoche der Wissenschaft und Künste« kündigt er an, in welcher Philosophie und Poesie „so allgemein und so innig würde[n], dass es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“ (Athenaeum-Fragment # 125). Schlegel höchst selbst ist hier nicht als Autor genannt. War doch die Absicht der romantischen Vernetzung, jeder könne (und solle) jederzeit alles in allem, und zwar mit- und untereinander. Eine vergemeinschaftete Seele aber, wenn man so will, taugt nicht als Raubgut.

In der Folgezeit ist der beliehene Autor dann aber doch verstimmt, wenn er nicht erwähnt wird. Wenigstens besteht er aufs Zitat. Das verhindert nicht das Plagiieren, gibt ihm aber eine andere Form: Der beliehene Text wird umgeschrieben, der Gedanke aber behalten. Der Verfasser identifiziert beispielhaft Franz Kafka als Leidtragenden und Sigmund Freud als den Erfinder der dazugehörigen Paranoia. Umgekehrt pathologisiert man bisweilen auch den Plagiator. Das hält die Justiz fern. Wenn das Plagiat eine Krankheit ist, braucht es den Arzt, nicht den Richter. Der unbekümmerte Wissenstransfer indes bleibt. Man denke nur an Thomas Mann und die zunächst nicht gekennzeichnete Verwendung der Harmonielehre Arnold Schönbergs im „Doktor Faustus“. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin 1935/36) macht auch die Literatur zum „Werkstoff“, der das Pathos der ästhetischen Unverletzlichkeit abhanden kommt. Die Aura ist weg und mit ihr die raumzeitliche Verortbarkeit des Originals.

Was also bleibt von der Idee der Selbsterschaffung durch Seelenraub? Wenn überhaupt, kann davon höchstens ab Auftreten des Subjekts in der Aufklärungsphilosophie die Rede sein. Doch selbst da, wie wir gesehen haben, ist es mit der unveräußerlichen Seele nicht weit her, die eigens geraubt werden müsste. Und heute? Gewiss könnte man im Gefolge poststrukturalistischer Verallgemeinerung das Plagiieren als „conditio moderna“ ausgeben. Wenn das nicht gewissermaßen auf jede literaturgeschichtliche Epoche zuträfe. „Dichtung ist die Verzauberung durch den Inzest, diszipliniert durch Widerstand gegen diese Verzauberung“, schreibt der amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom. Und erst dieser Widerstand macht den „starken Dichter“, der sich selbstbewusst aneignet, statt Idealisierungen von Selbsterschaffung zu erliegen („The Anxiety of Influence“, 1973, deutsch 1995).

All dies weiß natürlich Philipp Theisohn. Er hätte vielleicht nur ein anderes Motto wählen sollen, gegen das er dann nicht durchgängig hätte anschreiben müssen. Gleichwohl haben wir hier ein wunderbar gelehrtes Buch. Es ist wohltuend entspannt und kommt gerade ohne postmodernistisches Gedöns aus (das er aber natürlich auch behandelt). In der Postmoderne ist man bekanntlich mit starken Thesen unterwegs – und mit mehr oder weniger spektakulären Übertreibungen. Die reichen von Julia Kristeva, bei der der Autor in einer Vielzahl von intertextuellen Verweisungsbezügen verschwindet, bis zu Jean-Francois Lyotards (wie auch immer kantischem) Fahrensmann, der im Archipel die Übersetzungsarbeit leistet zwischen den angeblich gegeneinander geschlossenen Diskursinseln. Indes, nur eines von beidem kann der Fall sein. Die hier vorgelegte Literaturgeschichte des Plagiats widerlegt zumindest die Idee in sich geschlossener Diskurswelten. Und das Verschwinden des Autors sieht der Autor gelassen. Gegen apokalyptische Auflösungserzählungen schlägt er lieber vor, „wir bleiben noch ein Weilchen“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Titelbild

Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009.
577 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783520351012

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