Affenfrau und femme fatale – Weltsensationen!

In Margrit Schribers neuem Roman „Die hässlichste Frau der Welt“ verweben sich während einer „Freakshow“ im England des 19. Jahrhunderts durch Zufall das Schicksal der hässlichsten Frau der Welt und dasjenige eines jungen Mädchens aus der Innerschweiz

Von Simone OchsnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Ochsner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Und sie lächelte. My goodness! Ein lächelndes Tier … ein weiblicher Mann? Eine männliche Frau? Sowohl Mann als auch Frau?“ Solche Fragen bewegen die Köpfe des Publikums und der Wissenschafler, wenn Julia Pastrana (die „Affenfrau“) vorgeführt wird. Der durchorganisierte Promotor Theodor Fairchild Lent eilt mit ihr und seiner zweiten gewinnbringenden Attraktion, Rosie la Belle, einem von ihm zur Burlesque-Tänzerin gemachten Verdingkind aus den Schweizer Bergen, von Schau zu Schau, quer durch drei Kontinente. Beide Frauen, die viel zu klein geratene bärtige Kreatur und das lolitaähnliche Mädchen, sind in ihrer totalen Abhängigkeit dem Dompteur verfallen. Gleichzeitig entwickelt sich durch die männliche Ausbeutung eine starke Solidarität zwischen Julia und Rosie la Belle. Lent heiratet aus ökonomischer Berechnung zu einem späteren Zeitpunkt Julia Pastrana. Seine Erfolgssucht und Geldgier kennen keine Grenzen und nicht einmal der Tod der Affenfrau setzt der Tournée ein Ende: Lent schleppt die mumifizierten Körper Julias und ihres neugeborenen Kindes um die halbe Welt weiter.

Die Schwyzer Sage der Bartfrau vom Dorni durchzieht und rahmt den Roman. Von ihr geht er aus, mit ihr schliesst er, wenn die Schicksale der Julia Pastrana, der Rosie la Belle und der Bartfrau vom Dorni, einer Braut des Windes mit wehendem Bart, die in nächtlichen Nebelschwaden am Fronalpstock ihr Unwesen trieb, bis sie sich in Luft auflöste, verwoben werden. Der Roman ist im 19. Jahrhundert platziert und bezieht sich auf historische Tatsachen: Julia Pastrana (1834-1860) hat es gegeben. Ihr Schicksal fällt in das zunehmende Forschungs- und Entdeckungsfieber dieser Zeit, in welcher Darwins Werk über die Entstehung der Arten publiziert wird. Kreaturen mit Merkmalen von Menschen und Tieren werden entdeckt, die bei Wissenschaftlern wie bei Laien ob ihrer Anormalität eine grosse Attraktion darstellen. Auch das Verdingkind vom Fronalpstock ist eine realitätsnahe Figur, sie könnte tatsächlich einem Schweizer Auswandererzug nach Amerika entstammen. Der am Buchanfang platzierte Hinweis auf die Verwendung von historischen Zitaten im Roman ist allerdings überflüssig, fehlen doch jegliche Verweise über deren Herkunft.

Erzählt wird aus dem Blickwinkel des Geissenmädchens Rösli, das im neuen Umfeld zu Rosie la Belle zurechtgebogen wird. Die vom Armenvogt protokollierten Erzählungen der alten, in ihren Heimatort an den Fronalpstock zurückgekehrten Rosie, rahmen und unterbrechen diese Perspektive wiederholt. Gespräche im Coiffeurgeschäft vermischen nicht nur verschiedene Blicke auf das Geschehen, sondern auch verschiedene Erzählzeitpunkte zu einem immer wieder neu ansetzenden Handlungsverlauf. Margrit Schriber geht mit der Historie in der Gestaltung ihres Romans völlig frei ans Werk. Die Chronologie des erzählten Geschehens bleibt zwar erhalten, aber der Standpunkt des Erzählens wechselt permanent.

Die Sprache des Romans zeichnet sich durch Klarheit aus. Die Wortwahl ist bisweilen irritierend, aber farbig und konsequent. Die Satzverknüpfungen entsprechen der Aufsplitterung der Handlung in einzelne Mosaiksteine. Es wird ein hohes Erzähltempo vorgelegt: „Der Impressario von Julia Pastrana. Sein Freak steht im Zenit. Er bezeichnet sich als Künstler der Dressur. Ihm gelingt das Zähmen aller Wildlinge.“ Die kurzen Sätze, Satzfragmente und scharfen Schnitte vermitteln einen Eindruck von Atemlosigkeit. Das entspricht Lents Wunsch nach schnellem kommerziellen Erfolg, der Sensationslust des Publikums und der Rücksichtslosigkeit der in grossen Schritten vorangehenden Wissenschaft. Das einmal gewählte Stilmuster wird allerdings zu variationslos beibehalten. Die Schnitte sind oft gar zu abrupt und gänzlich unmotiviert. Die Brüche, welche die Lektüre vorantreiben, werden zwar durch verschiedene Themen und Motive zusammengehalten, die versatzhaft zusammengefügten Bruchstücke schliessen jedoch jegliche Reflexion aus. Die unterschiedlichen Erzählperspektiven sind nicht immer plausibel. So entsprechen die Formulierungen in den Briefen des Mädchens an den Waisenvater kaum denjenigen einer Zwölfjährigen mit allenfalls rudimentärer Grundschulbildung. Wortwahl und Wahrnehmung der Ereignisse entsprechen vielmehr der Sicht einer jungen Erwachsenen von heute.

Das historische Geschehen wird mit dem Zeitgeist und der Sprache der Gegenwart bearbeitet. Auch die Erzähltechnik entspricht heutigen Präsentationsformen von Presse und visuellen Medien. Da wären eigentlich Zeichen kritischer Distanz zur Sensationslust zu erwarten, deren Opfer die beiden Frauen werden. Doch diese Distanz fehlt. Dies rückt die Autorin nahe an die Position des Protagonisten Lents heran und macht die Leserin zur Voyeurin.

Der neuste Roman von Schriber, die 1976 mit dem Roman „Aussicht gerahmt“ debutierte und seither wiederholt Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen in historischem Ambiente beleuchtet, bietet rasante Unterhaltung; der menschlich brisante Stoff hätte allerdings mehr Tiefgang verdient.

Margrit Schriber: Die hässlichste Frau der Welt. Roman. Nagel & Kimche Verlag, Zürich, 2009. 192 Seiten, 17.90 Euro [D], 32.90 CHF, 18.40 Euro [A]. ISBN: 9783312004461.

Titelbild

Margrit Schriber: Die hässlichste Frau der Welt. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004461

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