Schreibort Schweiz

Autonomie und Abhängigkeit

Von Ursula AmreinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Amrein

„La suisse n’existe pas“ – „Die Schweiz existiert nicht“: Prominent platziert als Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung 1992 in Sevilla, provozierte dieses Statement des Künstlers Ben Vautier eine erregte Debatte über das Selbstverständnis der Schweiz im Kontext der Globalisierung. Das dem nationalen Selbstverständigungsdiskurs zwingend eingeschriebene imaginäre Moment erscheint hier radikalisiert bis hin zur Verwerfung der Schweiz und des „Schweizerischen“ überhaupt. Dieser Negation steht auf der anderen Seite die geradezu inflationäre Verwendung der Begriffe „Swiss made“ und „Swissness“ gegenüber. Im Sinne einer Herkunfts- und Ursprungsbezeichnung figurieren diese als Gütesiegel, dienen der Authentisierung von Produkten als unverfälscht und typisch schweizerisch, wobei der betont popularisierende Umgang mit dem Label Schweiz von einem spielerischen, mitunter auch ironisch distanzierenden Umgang mit nationalen Klischees zeugt. Sie finden Verwertung im Branding urbanen Lifestyles, dienen der Imagebildung einer modernen Schweiz, die sich ihrer Attraktivität in einer globalen Welt zu versichern hat. Das Verfahren indes bleibt zwiespältig, vermag es sich doch nicht von der Aporie zu lösen, dass der Markt die Bedienung gerade jener Topoi verlangt, gegen die sich die Inszenierung von Urbanität richtet.

Auch die Rede über die Schweiz und ihre Literatur bewegt sich im Spannungsfeld dieser Diskussionen. Sie führte in den letzten Jahren zu nicht minder hitzig geführten Debatten, wie sie die Behauptung „La suisse n’existe pas“ ausgelöst hatte. In Feuilletons, auf Podiumsdiskussionen und in literaturwissenschaftlichen Seminarien wird die Existenz einer Schweizer Literatur behauptet und verworfen, wird über Nutzen und Nachteil einer entsprechenden Etikettierung gestritten. Gibt es eine sich über spezifische Gegenstände und Schreibweisen definierende „Schweizer Literatur“ oder ist mit Blick auf die Viersprachigkeit des Landes nicht vielmehr von unterschiedlichen Literaturen und Kulturen zu sprechen? Lässt sich ein literarischer Kanon und in Korrespondenz dazu eine das literarische Schaffen prägende Schreibtradition ausmachen? Repräsentiert sich in der Literatur aus der Schweiz der „Sonderfall“ Schweiz, wie noch die Literaturgeschichtsschreibung jüngeren Datums mit Blick auf die singuläre Position Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts in der Nachkriegszeit postuliert, oder sind es nicht vielmehr diese beiden Autoren, die als Repräsentanten und Garanten für die weltliterarische Geltung der Schweizer Literatur einstehen können? Kurz: Steht die Literatur der Schweiz eher auf der Seite der Nationalliteratur oder hat sie das Potential zur Weltliteratur?

Die hier als Gegensätze angesprochenen Paradigmen, die in der Literaturkritik und in der Wissenschaft vielfach unausgesprochen zur Anwendung kommen, stellen indes kaum brauchbare Alternativen für die Lektüre und Interpretation dar. Arbeitet die Rückbindung an das nationalliterarische Paradigma mit der Fiktion einer innerschweizerisch gebildeten Tradition, einer Fiktion mithin, die, wie sich am Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung zeigt, meist der Außenperspektive auf die Schweiz entspringt, so tendiert eine von nationalen Zusammenhängen abstrahierende Betrachtung nicht selten dazu, die lokale Verortung der Literatur als Kennzeichen von Provinzialität zu werten. Beide Ansätze gehen darin an den vielfältigen Austausch- und Wechselbeziehungen vorbei, die für den Schreibort Schweiz in seinen kulturellen, ökonomischen, institutionellen und politischen Verflechtungen von Bedeutung sind und diesen entsprechend wandelbar machen.

Die deutschsprachige Literatur der Schweiz kann für diesen Austausch exemplarisch einstehen. Angewiesen auf den umfassenderen Kontext der deutschen Sprache, bewegt sie sich auf dem schmalen Grad von Autonomie und Abhängigkeit. Gottfried Keller reflektierte diese Figuration bereits in der Erstfassung des Grünen Heinrich (1854/55), wenn er den Kunststudenten Heinrich auf der Reise nach München begründen lässt, warum die Schweiz als Republik der deutschen Monarchie politisch überlegen, hinsichtlich ihrer „Geistescultur“ aber auf den Austausch mit Deutschland angewiesen sei. Dieses „sonderbare Nationalgefühl“ umreißt er wie folgt: „Es gibt zwar Viele meiner Landsleute, welche an eine schweizerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben. Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft, einige gute Schlachten bald besungen, und zu unserer Beschämung müssen wir alle Trinksprüche, Mottos und Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste für dieses Bedürfniß liefert. Und was die Wissenschaft betrifft, so bedarf diese gewiß noch weit mehr des großen Weltmarktes und zunächst der in Sprache und Geist verwandten größeren Völker, um kein verlorener Posten zu sein. Der französische Schweizer schwört zu Corneille, Racine und Molière, zu Voltaire oder Guizot, je nach seiner Partei, der Tessiner glaubt nur an italienische Musik und Gelehrsamkeit und der deutsche Schweizer lacht sie beide aus und holt seine Bildung aus den tiefen Schachten des deutschen Volkes. Alle aber sind bestrebt, Alles nur zur größeren Ehre ihres Landes zurückzubringen und zu verwenden, und Viele gerathen sogar über diesem Bestreben in ein gegen die Quellen undankbares und lächerliches Zopfthum hinein.“ (1. Buch, 3. Kapitel).

Obwohl Keller dezidiert der Auffassung war, „daß jeder Dichter mehr oder weniger das Produkt seiner Umgebung, der Verhältnisse ist, aus denen er hervorgewachsen“, so in seinem Dankschreiben an die Zürcher Regierung, die sich bei ihm für die Zürcher Novellen 1878 mit der Verleihung des Ehrenbürgerrechts bedankt hatte, wollte er sich weder als Zürcher noch als Schweizer Dichter verstanden wissen. Eine solche Festlegung stand für ihn in fundamentalem Widerspruch zu seinem Selbstverständnis als Autor des poetischen Realismus, der sich am humanistisch geprägten Bildungskanon der deutschen Klassik orientiert. Die Fixierung auf ein nationalliterarisches Paradigma verwarf er als „Alpenrosenpoesie“, distanzierte sich von entsprechenden Erwartungshaltungen und unterschied strikte zwischen seiner staatsbürgerlichen Bindung an die Schweiz sowie seiner kulturellen Orientierung an Deutschland.

Kellers Haltung ist insgesamt charakteristisch für das Selbstverständnis der deutschsprachigen Schweizer Autoren, die sich über ihre doppelte Zugehörigkeit zur Schweiz einerseits, zum umfassenderen Kulturraum der deutschen Sprache andererseits definieren, wobei diese doppelte Verortung im historischen Kontext der Nationenbildung sowie verschärft durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Akzentuierungen erfahren hat. Noch im 19. Jahrhundert wertete die Geschichtsschreibung diese doppelte Zugehörigkeit als Defizit, stand sie doch in Widerspruch zur favorisierten Idee der Kulturnation, die sich durch die Kongruenz von Sprache und Staat auszeichnet. Literaturhistoriker wie der Zürcher Germanist Jakob Baechtold sprachen denn auch nicht von einer Schweizer Literatur, sondern von der Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, so der Titel seines 1892 veröffentlichten Standardwerks. Die Schweiz, die sich 1848 als demokratischer Bundesstaat konstituiert hatte, sei politisch eigenständig, kulturell indes eine gute alte Provinz Deutschlands geblieben, beschied Baechtold. Erst in der Zeit des Ersten Weltkriegs löste diese Inkongruenz zwischen nationaler und kultureller Grenzziehung eine Debatte aus, die zu einer signifikanten Umwertung in der Deutung des doppelten Orts führen sollte und die darauf zielte, die Schweiz auch kulturell nach außen abzugrenzen. Der Begriff der Provinz erweist sich für diesen Vorgang erneut von Bedeutung. Anders als noch bei Baechtold definiert sich dieser jetzt über die Opposition zur Großstadt als dem Ort der Moderne schlechthin. Im Zuge dieser Umdeutung ließ sich die Schweizer Literatur ganz nach dem Vorbild der antimodernen Heimatliteratur modellieren und als Repräsentantin echter Dichtung zum Gegenbild großstädtischen Berliner Literatentums erklären. In Deutschland fand eine solche Darstellung Anklang. Deutsche Verleger setzten auf den Marktwert einer aus der Moderne gegen die Moderne gerichteten Literatur und behaupteten damit die Kontinuität der in Deutschland angeblich abgebrochenen Tradition vormoderner Erzählkunst.

Innerhalb dieser Konfiguration erwies sich die deutschsprachige Schweiz buchstäblich als das ›andere‹ und bessere Deutschland. Auf diesen Topos beziehen sich in den zwanziger Jahren Autoren wie Thomas Mann, aber auch Walter Benjamin benutzte die Schweiz in seinen Keller-Lektüren als Projektionsfläche zur Darstellung gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die vorab Deutschland betrafen. 1933 bestimmte das Bild der Schweiz als ›anderes‹ Deutschland die vielfach enttäuschten Hoffnungen des literarischen Exils. Zugleich war es maßgebend für die kulturelle Außenpolitik des Dritten Reichs. Die Reichsschrifttumskammer suchte über die Förderung kultureller Austauschbeziehungen mit der Schweiz eine Annexion des Landes vorzubereiten und wurde darin von Literaturwissenschaftlern unterstützt, die wie Josef Nadler über die Betonung kultureller Gemeinsamkeiten die nationale Grenzziehung zu verwischen suchten. Mit der Kulturpolitik der geistigen Landesverteidigung reagierte die schweizerische Politik auf die Brisanz dieser Situation. Aus der Not, keine eigentliche Kulturnation zu sein, wurde eine Tugend gemacht, die Schweiz zur Willensnation erklärt, deren Zusammenhalt sich aus dem politischen Willen zum Zusammenleben der vier Sprachregionen ergibt. Die offizielle Schweiz richtete sich damit ausdrücklich gegen jede Anschlusspolitik. Die Schriftsteller erhielten vom Bund den Auftrag, an der Stärkung und Festigung nationalen Selbstbewusstseins mitzuwirken, und sie wurden dafür mit der Gründung der Kulturstiftung Pro Helvetia belohnt. Im kulturpolitischen Klima der geistigen Landesverteidigung vermochten sich die aus Deutschland vertriebenen Autorinnen und Autoren nur schwer zu behaupten. Die meisten sahen sich zur Ausreise gedrängt, so Else Lasker-Schüler oder Bertolt Brecht, und auch die Familie Mann verließ die Schweiz Richtung Amerika. Dennoch bot der Schreibort Schweiz Zuflucht, wenn auch nur in einem sehr eingeschränkten Maße. Konnte sich während des Ersten Weltkriegs in Zürich der Dadaismus entfalten, so war es nach 1933 das Zürcher Schauspielhaus, das zur bedeutendsten deutschsprachigen Bühne aufstieg.

Die geistige Landesverteidigung hat eine lange Nachgeschichte. Noch 1986 kommentierte Friedrich Dürrenmatt in seiner Schiller-Preisrede Das Theater als moralische Anstalt heute die in den dreißiger Jahren institutionalisierte Beziehung zwischen Ästhetik und Politik maliziös mit den Worten, der Staat hat die Literatur, die Literatur den Staat zu unterhalten. Mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt traten 1945 zwei Autoren auf die Bühne der Literatur, die sich vom Stigma der Provinz zu befreien suchten und von denen entscheidende Impulse zur Formierung der Nachkriegsmoderne ausgingen. Die Provinz, seit dem 19. Jahrhundert identitätsstiftendes Moment im Diskurs über die Schweizer Literatur, wird jetzt zur Negativfolie, von der es sich abzuheben gilt. Aus dieser Optik formuliert sich eine Kritik an der Schweiz und ihrer Geschichte, die insbesondere die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs betrifft. Im Kontext dieser sich von einer identifikatorischen Bezugnahme auf den Staat lösenden Literatur gewann die Rede vom „Unbehagen im Kleinstaat“ (Karl Schmid) und dem „Diskurs in der Enge“ (Paul Nizon) an Bedeutung. Max Frisch hat diesen Topos literarisiert in seinem Roman Stiller (1954). „Ich bin nicht Stiller“, behauptet der in einem Schweizer Gefängnis inhaftierte White alias Stiller und verweigert hartnäckig die Annahme einer ihm von außen auferlegten Identität. Gerichtlich zur Annahme dieser Identität gezwungen, kann Stiller das Gefängnis verlassen, bleibt in seinem Land aber ein Fremder. Den Rest seines Lebens verbringt er in äußerlicher Freiheit, faktisch aber ist er an das Gefängnis Schweiz gebunden. Er zieht sich zurück in den französischsprachigen Teil der Schweiz, wo er in einem von Gartenzwergen umgebenen Chalet verstummt. Das Gefängnis als Metapher für die Schweiz taucht auch bei Dürrenmatt auf, exemplarisch in der Rede Die Schweiz als Gefängnis (1989). Mit der Erfindung von Orten wie „Andorra“ und „Güllen“ haben Frisch und Dürrenmatt helvetische Befindlichkeit in einer Weise beschrieben, wie das vor ihnen schon Gottfried Keller mit „Seldwyla“ getan hatte. Es sind fiktive Orte, die die Schweiz und zugleich die große Welt meinen.

Die Frage, was Heimat bedeutet, ist auch für die Gegenwartsliteratur aktuell geblieben. In der Auseinandersetzung mit dieser Thematik dokumentiert sich das Bemühen, den „Sonderfall“ abzustreifen, und zugleich bringt diese Problematik auch zum Ausdruck, dass sich die Literatur der Schweiz aufgrund ihrer doppelten Verortung, in ihrer Position zwischen Autonomie und Abhängigkeit, einem permanenten Druck zur Selbstreflexion und Selbstlegitimation ausgesetzt sieht. Sie gehört zur deutschsprachigen Literatur, gewinnt Sichtbarkeit indes meist nur dann, wenn sie sich als „Schweizer Literatur“ positioniert und in dieser Kategorie auch verhandelt wird. Das aber ist ein heikles Unterfangen. Auszeichnung und Abwertung gehen Hand in Hand und verweisen die Literatur aus der Schweiz nicht selten auf eine inferiore Position. Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn die Rede von der „Schweizer Literatur“ kritisch reflektiert, als geschichtlich vermitteltes Deutungsparadigma analytisch erhellt wird. Wie jede Literatur steht die schweizerische Literatur in benennbaren geschichtlichen Kontexten und weist zugleich über diese hinaus. Der Verweis auf den Schreibort Schweiz kann die Lektüre in diesem Sinne erhellen, aber auch verdecken. Vor allem aber täuscht der Begriff „Schweizer Literatur“ darüber hinweg, dass er selbst Teil jener Geschichte ist, die er objektiv zu klassifizieren vorgibt. „Culturdinge“, so lässt Gottfried Keller den grünen Heinrich räsonieren, brauchen keinen Patriotismus, sondern „vor Allem gute Einfälle, so viel als immer möglich“.

 

Anmerkung der Redaktion: Ursula Amrein hat sich mit dem Thema dieses Beitrages eingehender in zwei Büchern befasst:

„Los von Berlin!“ Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“, Zürich: Chronos 2004.

Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich: Chronos 2007.