Bürgerlich! Bürgerlich?

Ein zaghafter Versuch der Problematisierung eines allgegenwärtigen Begriffs

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Im Bericht über den Berliner Arzt Garri R., der seinen Patienten eine „psycholytische Therapie“ andiente, die für einige der Behandelten überaus fatal endete, wurde hervorgehoben, dass die Praxis in Berlin-Hermsdorf angesiedelt sei, „einem bürgerlichen Vorort im Norden der Stadt“. Im Bericht über den französischen Kultusminister Frédéric Mitterand stand zu lesen, dass er mit seiner Politik die „bürgerlichen Politiker am rechten Seineufer“ entzücke. Im Bericht über die Bestellung von Joschka Fischer zum Politik- und PR-Berater der Firma BMW stand zu lesen, dass der einstige Turnschuhträger längst auch „der bürgerlichen BMW-Klientel“ vermittelbar sei, auch wenn „das politische Berlin“ die „Quasi-Verbürgerlichung“ des „ehemaligen Taxifahrers, Sponti, Bundestagspräsidentenbeleidiger, Fraktionsvorsitzenden, Außenminister und Gastprofessor“ [sic!] kritisch sehe. In der Mehrzahl der Berichterstattungen über den Ausgang der Bundestagswahlen stand geschrieben, dass es zu einem Sieg des „bürgerlichen Lagers“ gekommen sei; die bevorstehende Regierungsbildung von CDU, CSU und FDP entspringe dem politischen Willen der „bürgerlichen Mehrheit“ in Deutschland. Bei der Kommentierung zum Ausgang der Wahlen in Brandenburg stand zu lesen, dass damit ein weiteres Land hinzugekommen sei, in dem die SPD „eine antibürgerliche Koalition“ bilden könnte.

Man sieht und liest es allgegenwärtig: Eine Begriffsverwirrung greift um sich. „Bürgerlich“ ist zum Sammelbegriff für eine Vielzahl von Zusammenhängen geworden, bei denen nicht klar ist, was sie miteinander verbindet. Es ist an der Zeit, zur Begriffsklärung beizutragen.

Der deutsche Begriff „Bürger“ leitet sich vom Althochdeutschen „burga“ (Schutz) ab, ursprünglich ein befestigter Wohnsitz, eine Burg, in dem sich Gewerbetreibende und Händler niederließen. Im englischen – speziell in Schottland – ist auch heute noch „Burgh“ als Bezeichnung für eine Stadt mit Stadtrechten beziehungsweise eine „freie Stadt“ weiterhin gebräuchlich.

Als „Bürger“, auf Lateinisch civis, wird heute der Angehörige eines Staates bezeichnet. In diesem Sinne nennt man den Staatsangehörigen auch „Staatsbürger“. Noch enger können auch nur solche Staatsangehörigen gemeint sein, die zur politischen Mitwirkung berechtigt sind – so unterscheidet das Kommunalrecht beispielsweise den Gemeindebürger vom bloßen Einwohner.

In einem sehr viel weiteren Sinn kann das Wort „Bürger“ aber auch alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit meinen. Dann ist die allen liberalen Verfassungen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft gemeint. Bürger sind dann alle gesellschaftlichen, das heißt nichtstaatlichen Akteure („Zivilpersonen“). Sie sind grundrechtsberechtigt, der Staat dagegen ihnen gegenüber grundrechtsverpflichtet.

Wohnen also in Berlin-Hermsdorf nur wahlberechtigte Staatsbürger oder einfach nur Menschen? Erfreut Frédéric Mitterand vor allem jene Politiker vom rechten Seineufer, die französische Staatsbürger sind? Ist Joschka Fischer nun auch deutschen Gemeindebürgern vermittelbar, die einen BMW fahren? Bekommen wir eine Regierung, deren Mitglieder grundrechtsverpflichtete Personen sind?

Die rückseitigen Fragen, die sich daraus ergeben, lauten: Wer wohnt in „nichtbürgerlichen“ Quartieren im Land Berlin? Welche „Nichtbürgerlichen“ freuen sich nicht über Frédéric Mitterand? Ist Joschka Fischer auch Mercedes-Fahrern oder Volkswagen-Fahrern vermittelbar, die nicht das kommunale Wahlrecht haben? Hätten wir beinahe eine Regierung von Nichtstaatsbürgern bekommen, wenn sie nicht aus dem „bürgerlichen Lager“ stammen?

Sind mit dem Adjektiv „bürgerlich“ immer noch jene Unterscheidungen gemeint, wie sie Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Neujahrsansprache 1993/94 machte, als er diese eröffnete: „Mein herzlicher Gruß am heutigen Abend gilt Ihnen, liebe Landsleute, und unseren ausländischen Mitbürgern“? Soll immer wieder betont werden, dass die deutsche Staatsbürgerschaft an das ius sanguinis gekoppelt ist, und somit der volle Umfang aller staatsbürgerlichen Rechte (insbesondere das Wahlrecht, die Freizügigkeit und eine konsularische Unterstützung im Ausland) und Pflichten (also etwa die Wehrpflicht oder die ehrenamtliche Berufung zum Schöffen oder als Wahlhelfer in einer Gemeinde) – bis auf wenige Ausnahmen des Einbürgerungsrechtes – an die Abstammung von deutschen Eltern gebunden ist? Im heutigen Sprachgebrauch wird der Ausdruck „Mitbürger“ immer häufiger zur Unterscheidung vollrechtlicher Deutscher und eingeschränkt berechtigter Nicht-Deutscher verwendet. Wären also die Kandidatinnen und Kandidaten, die nicht der CDU, CSU und FDP angehören, keine vollberechtigten Staatsbürger?

Was soll die Attribution „bürgerlich“ bei Personen, Wohnquartieren und Umgangsformen? Es kann wohl nicht gemeint sein, was noch im europäischen Mittelalter damit bezeichnet wurde, nämlich Menschen, die im Sinne der Ständeordnung Bewohner einer befestigten Stadt mit eigenem Stadtrecht sind. Sie unterschieden sich vom einfachen „Einwohner“ durch ihre besonderen Bürgerrechte, begründet vor allem durch Hausbesitz. Einen minderen Rechtsstatus besaßen „Ausbürger“, meist Adlige, die keinen voll gültigen Wohnsitz mit Steuerpflicht und Mitbestimmungsrecht in der Stadt hatten, sondern wegen ihrer Immunitätsrechte lediglich ein Wohnrecht ohne Beteiligung am Stadtregiment besaßen. „Pfahlbürger“ lebten ebenfalls mit eingeschränkten Rechten innerhalb der Ummauerung oder in den Vorstädten, zahlten aber nur reduzierte Steuern und konnten nach Erwerb des erforderlichen Grundvermögens das volle Bürgerrecht erhalten.

Lassen wir diese Ausflüge weit zurück in die historische Fundierung des Begriffs „Bürger“ und des Adjektivs „bürgerlich“. Es scheint nicht das zu sein, was in den oben genannten Zusammenhängen gemeint ist. Was aber soll uns signalisiert werden?

Immer noch scheint die Vorstellungswelt der vermeintlich vergangenen Ständegesellschaft zu herrschen: „Oben“ der Adel, in der „Mitte“ das Bürgertum, „unten“ die Arbeiterschaft. Nach der Französischen Revolution prägten drei ideologische Richtungen die europäische Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die diese gesellschaftliche Ordnung auch in der Ideenwelt widerspiegelten: die Konservativen für den (Land-)Adel, die Liberalen bei den Bürgern der Städte, die Sozialisten für das (städtische) Proletariat. Werden prominente SPD-Politiker, wie etwa Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, immer noch als Proleten eingeordnet? Aber warum werden einige CSU-Politiker, etwa der legendäre Franz Josef Strauß als Sohn eines Münchner Metzgers oder der Bauernsohn Erwin Huber, dann nicht ebenfalls als Proletarier rubriziert, sondern als tragende Säulen eines „bürgerlichen“ Politikverständnisses? An der Klassenzugehörigkeit scheint es also ebenso wenig zu liegen wie an der Infragestellung der Staatsbürgerschaft.

Bleibt nur der Rekurs auf die „bürgerlichen“ Werte und Tugenden: Bildung, Selbstdiziplinierung, Ordnungsliebe, Pflichttreue, Arbeitseifer, Bescheidenheit, gute Manieren, gutes Aussehen. Wollen wir das so pauschal den Bewohnern von Berlin-Hermsdorf zusprechen? Geht es wirklich „ordentlicher“ am rechten Seineufer zu? Hat Joschka Fischer durch BMW nun auch den „bürgerlichen Wertehimmel“ über sich? Wollen wir wirklich jenen Mitgliedern des Hohen Hauses, die demnächst ihre Plätze im Reichstagsgebäude einnehmen werden, die aber nicht der Regierungskoalition angehören, solche Werte und Tugenden pauschal absprechen? Kann überhaupt noch von einer „bürgerlichen Regierung“ gesprochen werden, wenn in ihr möglicherweise drei Adelige Ministerien übernehmen werden: das angeheiratete Mitglied des niederen Adels, Ursula von der Leyen, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das medienumstrahlte Mitglied des niederen Uradels, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, für die Wirtschaft und das seit Jahrzehnten so bescheiden bleiben wollende Mitglied des deutschen Hochadels, Hermann Otto Prinz zu Solms-Hohensolms-Lich, für die Finanzen?