Soziologische Leerstellen

Über den von Hajo Kurzenberger, Hanns-Joseph Ortheil und Matthias Rebstock herausgegebenen Sammelband „Kollektive in den Künsten“

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem zehnteiligen Ausstellungszyklus „Kult des Künstlers“ in Berlin 2008 wurde der individuell schaffende Künstler als zeitübergreifende Figur gefeiert, obwohl 2005 in der Ausstellung im Fridericianum „Kollektive Kreativität“ die These aufgestellt wurde, dass zeitgenössischen Künstler zunehmendes Interesse an kollektivem Arbeiten zeigten. Diese Tendenz in den Künsten beobachteten auch die Herausgeber der Abhandlung „Kollektive in den Künsten“ Hajo Kurzenberger, Hanns-Josef Ortheil und Matthias Rebstock. Die Veröffentlichung dokumentiert die Ergebnisse einer Ringvorlesung des Fachbereichs „Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation“ der Stiftung Universität Hildesheim, die 2006 ein Projektseminar unter dem Titel „Kollektiv-Körper“ begleitete, in dem sich 300 Studenten künstlerisch-wissenschaftlich mit kollektiven Organisations- und Produktionsformen in den Künsten auseinandersetzten.

Doch nicht nur in der Kunst, sondern auch wissenschaftlich, so im Vorwort die Herausgeber, sei ein zunehmendes Interesse zum Thema künstlerische Kollektive zu beobachten. Dieses Feld abzustecken ist der Sammelband, insgesamt in 14 Beiträgen, angetreten, ohne zu einer soziologisch belastbaren Definition von „Kollektiv“ vorzudringen. Alle Beiträger verwenden den Begriff nach eigenen, nicht immer explizierten, Kriterien und einige Autoren verwenden verwandte Bezeichnungen wie Team, Netzwerk, Zweckgemeinschaft, Künstlerzusammenschlüsse oder Gruppe. In der Sache jedoch werden, sieht man auf soziologische Definitionen von Robert King Merton, Ferdinand Tönnies oder Anton S. Makarenko, Gruppen behandelt, da als Gruppenkriterium, im Unterschied zum Kollektiv, das einen Bezug auf ein gemeinsames Wertesystem voraussetzt, soziale Interaktion genannt wird. Jedoch nicht nur begrifflich oder systematisch, sondern auch historisch zeigen sich Leerstellen. So wird behauptet: „Gemeinsame Produktionsformen haben nur in gelegentlichen Ausnahmen stattgefunden.“ Dass es im Mittelalter und der Renaissance zahlreiche Produktionswerkstätten gab, ja, dass die ersten Kunstakademien in Europa aus künstlerischen Zusammenschlüssen hervorgingen, ist ebenso erforscht wie die Hochzeit von Künstlergruppen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Nur als Gruppe, so die empirisch reich belegte These von Christoph Wilhelmi in seinem dreibändigen Grundlagenwerk „Künstlergruppen in Europa seit 1900“, sei die künstlerische Moderne durchgesetzt worden.

Die Publikation besteht aus vielen Einzelstudien zu verschiedenen Aspekten des künstlerisch Kollektiven. Behandelt werden alle Kunstdisziplinen, zu denen auch der Bereich Computerspiele gezählt wird. Da es Kunstdisziplinen gibt, die per se, wie Theater, Oper, Film oder Architektur, auf Kooperation angelegt sind, wäre es wichtig gewesen, Produktionsformen in einem ersten Schritt zu systematisieren. Dieser Zugang wurde nicht gewählt, obwohl der Zwang zu Kooperation für viele Künstler bedeutsam ist und sie deshalb auch in Disziplinen arbeiten, in denen sie allein für das Ergebnis verantwortlich sind. Das Motiv Kollektiv wird außerdem in den Dimensionen Vermittlung, Rezeption und Produktion – Personal, künstlerisches Motiv und Material – behandelt. In einem weiteren Schritt wird dann auf gesellschaftliche und politische Akteure außerhalb des Kunstsystems abgehoben, die auf dieses einwirken. In diesem Zusammenhang bietet die Ausführung von Birgit Mandel, dass Kunst erst im „Zusammenwirken verschiedener Akteure des Kulturbetriebs“ entsteht, analytisch keinen neuen Zugriff auf das Thema und ist zudem historisch angreifbar. Sie behauptet, dass Kollektive auf „komplexe arbeitsteilige Gesellschaften“ beschränkt seien. Historisch gesehen wechseln im System Kunst Distributionsorte, soziale Zusammensetzung des Publikums und die Einbettung der Kunst in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge. Sowohl Martin Warnke im „Hofkünstler“ als auch Walter Benjamin im Kunstwerksaufsatz sind diesen Fragen detailliert nachgegangen.

Der eher lockere Umgang mit soziologischen Termini beginnt bereits im ersten Beitrag des Bandes bei Kurzenberger. Wechselnd von „Menge“ und „Masse“ sprechend, stellt er zwei Chor-Diskurse, den „essayistisch-philologischen“ und „theaterpraktischen“ vor. Einen kleinen Fehler in der Einleitung als vom berühmten Frontispiz in Thomas Hobbes’ „Leviathan“, das einen Kollektivkörper zeigt, die Rede ist und das David Hume zugeschrieben wird, rückt dann der Beiträger Volker Wortmann zurecht, der Filmteams vorstellt.

Problemen, beispielweise der individuellen Urheberschaft und Vergütung, die beim gemeinsamen Arbeiten auftreten, gilt der Beitrag von Hartwin Gromes am Beispiel von Bertolt Brecht. Er strukturiert seinen Beitrag als Reigen aus Zitaten von Brecht-Mitarbeitern und Brecht-Forschern. Deutlich wird, dass es, selbst für Forscher, schwer zu entscheiden ist, wem welche künstlerische Leistung zugeschrieben werden kann.

Strittiges steht in dem Beitrag von Matthias Rebstock zu Produktionsformen von Musik nicht zur Debatte, obwohl es bei Interpretationen von Musikpartituren durchaus eine Rolle spielt. Der Beitrag ist ein analytisches Glanzstück, da klare Unterscheidungen getroffen werden. So bleibt in der traditionellen Notation der Interpret eng an die Entscheidung des Komponisten gebunden, während jener bei John Cage große interpretatorische Freiheit genießt, da „wesentliche kompositorische Entscheidungen an den Interpreten“ abgetreten werden. Im dritten Fall entscheidet das interpretierende Ensemble völlig autonom, da keine ausgearbeitete Partitur vorgelegt wird.

Einen weiteren Zugang zum Thema fächert sehr schön der Beitrag von Christine Biehler auf, die die Künstlergruppe „Reinigungsgesellschaft“ (Martin Keil und Henrik Mayer) auftreten lässt. Das Kollektive tritt dabei verdichtet als Produktionsgemeinschaft, als Arbeitsweise und als Material auf.

Die These von Kurzenberger vom Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Künstler, die er im Vorwort aufstellt, ist soziologisch und historisch zu dürftig belegt. So wäre es spannend, die Werkstatt von Hans Makart im Wien der Belle Époque mit Andy Warhols Produktion in der „Factory“, einem großen Dachgeschossraum in New York zu vergleichen, die, sieht man auf Jeff Koons’, der seine Kunstproduktion an Effizienzkriterien einer Fabrik ausrichtet, geradezu chaotisch ablief.

Als gesellschaftlich Produziertes galt Theodor W. Adorno alle Kunst. Der vorliegende Band lotet Zugänge zum Thema „Kollektive in den Künsten“ aus und bietet, aus medialer Perspektive, interessante Einblicke. Das Phänomen Künstlergruppe indes klärte Christoph Wilhelmi auch soziologisch brillant.

Titelbild

Hajo Kurzenberger / Hanns-Josef Ortheil / Matthias Rebstock (Hg.): Kollektive in den Künsten.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2008.
227 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783487138770

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