Vereinsamung im ungesagten Wort

In ihrem ersten Roman „Der Zweifel“ beleuchtet Carla Haas die Abgründe einer ‚funktionierenden’ Ehe

Von Mathias KundertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Kundert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ella will nicht sprechen. Yannick überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr alles, was sie sich seiner Meinung nach von einer Ehe nur zu erträumen vermag, und versäumt keinen Augenblick, zu verdeutlichen, wie abgöttisch er sie verehrt und begehrt. Doch all dies kann nicht verhindern, dass sich ein tiefer Riss in ihre scheinbar so solide Beziehung einschreibt.

Dieser Riss entspricht dem Unterschied der Erwartungshorizonte beider Hauptfiguren. Haas wird es erst möglich, diesen existentiellen Abstand der Eheleute zu beschreiben, indem sie sich nicht auf die Darstellung einer Einzelheit des Konfliktes beschränkt. Es würde etwa nicht genügen, Yannicks Unfähigkeit, sich von geliebten Personen ausreichend abzugrenzen, darzustellen: Das betrifft vor allem die Beziehung zu seiner Mutter, deren Omnipräsenz die eheliche Beziehung zu kontaminieren droht. Ebensowenig wäre die Beschreibung der gegenseitigen Verkennung des Partners ausreichend, auf den jeweils problematische Idealbilder projiziert werden oder dem Erwartungen unterstellt werden, die in die Ausübung ungeliebter Rollenbilder drängen: Yannick meint etwa, er müsse den Ernährer und Luxusgaranten mimen, Ella die liebevolle Akademikergattin. Und auch die gelebten Selbstlügen beider Eheleute würden für sich genommen den Konflikt nicht plausibel machen können: So zweifelt Ella an der Zukunft ihrer „Ehe“ – daher auch der Titel des Romans – und fantasiert sich in einen utopischen Neuanfang mit dem beinahe unbekannten Luis; Yannick indes macht sich konstant vor, seine Frau sei glücklich und all sein Handeln ziele auf eine Familiegründung. Erst im Geflecht aller im Roman nebeneinander gestellten Einzelheiten wird das von Haas äusserst differenziert und mit ungemeiner Detailtreue gezeichnete Beziehungsbild sichtbar.

Es ist gerade diese Multiperspektivität der Krise, die dem Roman seine Plastizität verleiht. Nicht durch die grosse Intrige, sondern in der ätzenden Lösungsflüssigkeit der kleinen Verräterreien wird die Beziehung langsam und besonders schmerzhaft zersetzt. Konsequenterweise spiegelt sich diese Multiperspektivität auch im geschickt arrangierten Übergang der Erzählperspektiven. Die Sicht auf die Situation pendelt immer wieder von Ella zu ihrem Mann und verschachtelt in deren Narrationen weitere Erzählperspektiven. Mit welcher Leichtigkeit dies gelingt, wird besonders dort deutlich, wo Ella berichtet, wie Yannick ihr von dem Brief erzählt, in dem dessen Exfrau Leni ihre Beweggründe kundtut, sein Kind abzutreiben, von dem er gar nichts wusste. Erstaunlicherweise fällt hierbei der Nachvollzug jederzeit leicht. Und erst durch diese Darstellungsweise wird verstehbar, wie die Phantome der Vergangenheit den Beziehungshorizont determinieren.

Die im Text kultivierte Distanzlosigkeit, beispielsweise zu Ella, verhindert zudem, dass das Paar je von aussen im Sinne einer Identitätseinheit wahrgenommen werden könnte. Wie in ihrer Erstlingserzählung „Die Nacht“, die 2006 unter die 62 schönsten Schweizer Bücher gewählt wurde, verfolgt Haas auch hier, in ihrer zweiten Auseinandersetzung mit dem Paarleben, systematisch das Motiv der schmerzlichen Ausgesetztheit – hier genauer Ellas schleichende Vereinsamung im Gemeinsamen. Fast könnte man meinen in dieser Motivik Anklänge der Lausanner Regiearbeit im von Haas mitbegründeten „Théâtre L.“ zu erkennen. Durch Inszenierungen von Becketts „Glücklichen Tagen“ und mehreren Kafkastücken hat sie sich ebenso mit den Ikonen der Vereinzelung konfrontiert wie mit den Psychogrammen vereinzelter Gewalterfahrung, z.B. in den Adaptation der „Totmacher“-Verfilmung oder Fassbinders „Bremer Freiheit“. Zweifelsohne wurde auch die Klarheit der Sprache an diesen Vorbildern geschult.

Die Vereinzelung wird auch durch die Szenerie wiedergegeben. Durch Yannicks exzessive Forschungstätigkeit existiert das Ehepaar quasi nur per Zwischenstopp. Auf die Dauer solch eines Haltes begrenzt – die Konferenz in Helsinki – bleibt auch die Binnengeschichte, in der Ella erwägt, die Beziehung zu beenden. Somit fokussiert sich die Geschichte auf die einsame Entscheidungssituation, die von den geschickt eingesetzten Erinnerungseinschüben und Projektionen weniger getrübt als in ihrer Hoffnungslosigkeit dupliziert wird: Die je augenblickliche Vereinzelung wird als immer Wiederkehrendes erahnbar.

Um aus diesem ewigen Zirkel der Vereinsamung auszubrechen, bedürfte Ella des Wortes. Diesem kommt eine gleichermassen entscheidende wie ambivalente Rolle zu: Das Wort ist die einzige Möglichkeit, sich aus der Isolation zu lösen. Zugleich ist es aber immer schon Verrat. Denn im Wort veräussert sich das Unveräusserliche; im Wort nimmt Unsagbares Formen an, die ihm nicht entsprechen. Wie ein roter Faden zieht sich diese Ambiguität durch den Roman. Und daher will Ella nicht sprechen. Geprägt durch die Erfahrung ihrer ersten Beziehung, wo die Liebe unter dem mächtigen Palast der leeren Phrasen begraben wurde, verweigert sie Yannick nun sich mitzuteilen. Die Angst vor der Selbstdistanzierung im Wort verhindert, dass sie sich Yannick als Anderes offenbaren kann. Und so bleibt ihr nichts übrig, als die scheinbar so irritationslose Fremd-Rolle zu spielen, von der sie meint, dass Yannick sie in ihr sieht. Daher bleibt auch nur die Möglichkeit, das Wort an Luis zu richten, von dem sie kaum etwas zu wissen scheint.

Doch auch der an ihn gerichtete Brief, der ihr Begehren offenbart, muss immer schon eine gleichzeitige Zurücknahme des Wortes sein: „‚Luis, ich sollte schweigen und nichts sagen.’ schreibt Ella. ‚Ich habe vor dem Missverständnis Angst, das den Worten folgt.’“ Denn sogar diese Worte des Verlangens sind blendende Worte. Worte, welche die „Zweifel“ und das Zögern überdecken, aus dem sie erwachsen sind. Es sind dies die „Zweifel“, eine Entscheidung zu treffen und sich in der Artikulation von sich selbst zu scheiden. Und so zeigt sich schon in den beiden Briefen, die den Roman eröffnen, und zugleich dessen Endpunkt darstellen, was die ganze Geschichte bestimmt: die Kälte der glühenden Sprache. Die Unmöglichkeit, sich unzweifelhaft zu artikulieren. Sich zu meinen, ohne sich zu ver-sprechen.

Carla Haas ist mit „Der Zweifel“ ein in sich stimmiges und äusserst angenehm zu lesendes Romandebüt gelungen. Man könnte allerdings versucht sein, an dem Buch ein paradoxes Phänomen zu kritisieren: Um die Ambivalenz von Sagen und Unsagbarem darzustellen, muss Haas vieles, ja vielleicht alles darstellen. Es bleibt kaum mehr etwas Unartikulierbares übrig. Diese Kritik müsste sich aber ihrerseits den Fragen ausetzen, ob sie mit der Forderung nach bewusst gesetzten Lücken der Darstellung, in denen sich ein ‚Geheimnis­volles’ eröffnet, letztlich nicht einem antiquierten, romantischen Mystizismus verbunden bliebe und ob Haas mit dieser paradoxen Vorgehensweise nicht einen sehr zeitgemässen Umgang mit dem Unsagbaren gefunden hat.

„Der Zweifel“ ist ein schönes Buch. Und das liegt nicht allein an der erzählten Geschichte. Schön ist das Layout, das verwendete Papier, die Konsistenz des Buchrückens, das Titelbild, die ganze Edition. Das Buch kommt so auserwählt und stilsicher daher, wie man das vom Ammann Verlag kennt. Auserwähltheit und Stilsicherheit sind denn auch die Attribute, die sich auf dessen gesamtes Verlagsprogramm anwenden lassen. Drei Jahre nach dem grossen 25-Jahre-Jubiläum streicht der Verlag nun die Segel. Schade.

Titelbild

Carla Haas: Der Zweifel. Roman.
Ammann Verlag, Zürich 2009.
233 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783250601289

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