Ein spätes Geschenk

Roman Graf erzählt in seinem Debüt „Herr Blanc“ vom Misslingen des Lebens

Von Martina LäubliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Läubli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte beginnt mit einem Brief. Herr Blanc, seine leistungsfähigsten Jahre bereits hinter sich, erhält die Kündigung seiner Arbeitsstelle. Darauf hin verschanzt er sich in seiner Wohnung, die er bisher „nur für die Arbeit, zum Einkaufen und für die Besuche bei seiner Mutter verliess“, und sitzt vor dem Fernseher. Herr Blanc meidet Entscheidungen grundsätzlich. Er wartet darauf, dass ihm das Leben zustösst. Die Persönlichkeit des Herrn Blanc ist das Zentrum, um das der gleichnamige Roman unablässig kreist. Die Leserin kreist mit, muss mitkreisen, vermerkt die detailliert beschriebenen alltäglichen Handlungen und taucht in sein Inneres ein, verfolgt Gedankenschleife um Gedankenschleife seine mal mehr, mal weniger banale Wahrnehmung der Welt.

„Herr Blanc“ zeichnet das Psychopathogramm eines Einzelgängers und greift damit auf ein bewährtes Rezept zurück: Man nehme einen Sonderling, der sich eigenbrötlerisch vor den Zumutungen der Welt zurückzieht und richte die Aufmerksamkeit auf das Kleine, auch Unansehnliche seiner Existenz. Demnach werden Herrn Blancs Alltäglichkeiten gleichsam durch ein Brennglas vergrössert. Eine zweite Dimension des Erzählten bilden die Erinnerungen, welche die eintönige Existenz immer wieder unterbrechen. Die Tatsache, dass Herr Blanc aus eigener Schuld seine Jugendliebe (seine wirkliche grosse Liebe, wie ihm im Nachhinein klar wird) verloren hat, taucht alles ins melancholische Licht verpasster Chancen. Die Erzählung ist geprägt von diesen zwei Gegenpolen: des gegenwärtigen, überaus öden Lebens von Herrn Blanc und der Erinnerungen an die mit der schönen Heike verbrachten Zeit in Cambridge. Die farbig und leichtfüssig geschilderten Erinnerungspassagen kontrastieren auch in der Erzählweise mit dem ‚Leben danach’, das durch umständliche Formulierungen schwerfällig wirkt. Diese Wirkung entsteht auch dadurch, dass sich die Erzählung ganz auf die Schäbigkeit und Langeweile dieses Lebens einlässt und es in aller Deutlichkeit als solches aufzeigt: Nach dem Tod seiner Mutter geht Herr Blanc nicht mehr aus seiner Wohnung, bis ihn die Kontaktanzeige einer Witwe aus der Krise befreit. Die Anzeige führt zu einer Zweckehe mit Vreni, ausserdem findet Herr Blanc wieder Arbeit bei den Städtischen Verkehrsbetrieben. Vreni spricht zwar weiterhin regelmässig mit ihrem verstorbenen Mann, besitzt aber ein Haus und kocht für Herrn Blanc, Er kann sich nicht beklagen und wird immer dicker. Die Beziehung zu Vreni ist offensichtlich keine erfreuliche Sache – auch nicht für die Leserin, da Herr Blancs Reflexionen darüber an vielen Stellen wie aus einem populärpsychologischen Beziehungsratgeber abgeschrieben scheinen.

Herr Blanc – das Zentrum der Romanwelt

Roman Graf, aus Winterthur stammend, weit gereist und am Leipziger Literaturinstitut ausgebildet, schildert Herr Blancs Geschichte detailliert und mit sprachlicher Sorgfalt. Die Krux liegt jedoch darin, dass er konsequent aus der Perspektive von Herrn Blanc erzählt. Diese ist jedoch alles andere als breit gefächert und wahrnehmungsreich, sondern von kleinkariertem Denken, vielerlei Ängsten und immergleiche Befindlichkeiten geprägt. Durch diese Reduktion der Erzählstimme auf Herrn Blanc wird eine produktive Distanz, die das Befremdliches seines Charakters auf eine ironische, groteske oder andere Weise aufzeigen könnte, verunmöglicht. Herr Blanc bleibt zu sehr ein Prototyp des absonderlichen Eigenbrötlers, ohne individuelle Skurrilität zu entwickeln. Die Eintönigkeit und Banalität der Figur werden so auch zu Eigenschaften des Romans. Darüber hinaus wirkt das strukurierende Modell der verpassten grossen Liebe über den Grossteil des Romans hinweg schematisch. Erst gegen Ende wird es durchbrochen.

Herr Blancs mehrfach geäußerte Ansichten über die Schweiz sind ebenfalls wenig erhellend, sie reichen über Klischees kaum hinaus. Mit der wiederholten Thematisierung der Schweiz als Heimat greift Roman Graf einen beliebten Topos im Schreiben deutschsprachiger Schweizer Autoren auf. Dies ist einerseits ein Bekenntnis zur Tradition einer mit dem eigenen Land hadernden, aber trotz aller Rebellion von ihm inspirierten „Schweizer Literatur“. Andererseits begibt sich Graf in die Gefahr, an den grossen Namen dieser Tradition – Dürrenmatt, Frisch, Meier, Loetscher, um einige zu nennen – gemessen zu werden. Und mit Blick auf diese stellt man fest, dass die Auseinandersetzung mit der Schweiz als Heimat tatsächlich schon geistreicher stattgefunden hat.

Über sich selbst lachen

Trotzdem bereitet die Lektüre von Grafs sorgfältig gedrechselten Sätze stellenweise Vergnügen. Besonders in der Beschreibung Polens, wohin Herr Blanc reist, um Heikes Grab zu besuchen und ihr hinterlassenes Geschenk in Empfang zu nehmen, entwirft er mit Empathie beobachtete, prägnante und bisweilen skurrile Szenen. Erst bei dieser Reise wird die Tragik von Herrn Blancs Leben spürbar. In einer fremden Umgebung gelingt es der Geschichte, aus vorgefertigten Formen auszubrechen. Im letzten Kapitel schliesslich erscheint Herr Blanc viele Jahre später in seiner Alterswohnung: „Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und dem Tod, nur noch die Zeit, aber die Zeit war leer.“ Nun ist es ihm endlich möglich, über sich selbst zu lachen. Insofern erzählt „Herr Blanc“ auch von der Aneignung von Heiterkeit (oder Galgenhumor). Der dunkle Hintergrund seines öden Lebens sowie die der Langeweile abgerungene Lektüre lassen das plötzlich ins Heitere gewendete letzte Kapitel umso stärker leuchten. Das Porträt von Herrn Blanc als altem Mann zeigt ihn in einem anderen, freieren Licht. Auf diese Weise gipfelt die schwerfällige Geschichte eines misslungenen Lebens in einer berührenden Hommage an das Altern.

Titelbild

Roman Graf: Herr Blanc. Roman.
Limmat Verlag, Zürich 2009.
220 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783857915857

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