Essentialisierende Formen des „Otherings“

Stefan Hermes untersucht in „Fahrten nach Südwest“ literarische Thematisierungen deutscher Kolonialkriege

Von Axel DunkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Dunker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Medardus Brehls „Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur“ (München 2007) liegt nun mit der Hamburger Dissertation Stefan Hermes’ eine zweite größere (und ebenso verdienstvolle) Studie zur literarischen Auseinandersetzung mit den Kolonialkriegen gegen die Herero und Nama zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor. Im Unterschied zu Brehl, der sich vor allem mit den sprachlichen und literarischen Strategien beschäftigt, mit denen der Völkermord an den Herero in zeitgenössischen Schriften legitimiert wird, untersucht Hermes die literarische Auseinandersetzung mit den Kolonialkriegen insgesamt im Schrifttum von 1904 bis 2004.

Wie schon Brehl geht es auch Hermes um die Frage, wie literarische Texte am Kolonialdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts mit seinen rassentheoretischen, biologistischen und geopolitischen Implikationen partizipieren. Die reine Tatsache, dass die Texte das tun, sagt noch nichts aus über ihre Zielsetzung, ebenso wenig wie ihre kolonialismusaffirmative oder -kritische Positionierung wirklich etwas darüber aussagt, ob sie den Konstruktcharakter dieser Theoreme aufzeigen und eine ästhetische Distanz zu diesem Diskurs einzunehmen vermögen.

In erfreulicher Breite und zugleich exemplarischer Durchdringung analysiert Stefan Hermes heute eher unbekannte Abenteuerromane wie Friedrich Meisters „Muhérero rikárera!“ (1904), berüchtigte Werke der Kolonialliteratur wie Gustav Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906) und Hans Grimms „Volk ohne Raum“ (1926), avantgardistische Texte wie Franz Jungs Erzählung „Morenga“ (1913), Romane aus der Zeit des Nationalsozialismus wie Kurt Renck-Reicherts „Kampf um Südwest“ (1938) und Adolf Kaempffers „Das harte Brot“ (1939), und der DDR (Ferdinand Mays „Sturm über Südwest-Afrika“ (1962) und Dietmar Beetz’ „Flucht vom Waterberg“ (1989) sowie den ‚Klassiker‘ der deutschen postkolonialen Literatur, Uwe Timms „Morenga“ (1978), aber auch Beispiele der Gegenwartsliteratur wie Gerhard Seyfrieds „Herero“ (2003), Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ (2003) und Christof Hamanns „Fester“ (2003).

Hermes trägt seine in close readings gewonnenen Einsichten ebenso luzide wie unpolemisch vor und versucht, die Texte jeweils in all ihren nicht immer unwidersprüchlichen Facetten zu erfassen. Einer der zentralen Bezugspunkte ist dabei der schon von Brehl thematisierte Völkermord an den Herero: Der deutsche General Lothar von Trotha schickte 1904 die ca. 60.000 Mitglieder des Volks der Herero in eine wasserlose Wüste und erteilte den Befehl, auf alle – inklusive Frauen und Kinder – zu schießen, die versuchen sollten, der Einkesselung zu entgehen. Es mag überraschen, dass Frenssen in seinem mit rassistischen Theoremen nicht eben sparsam umgehenden Roman den Genozid nicht nur in aller Drastik darstellt, sondern die Taten der deutschen Kolonialtruppen auch ziemlich deutlich als solchen bezeichnet. Frenssen lässt nichts im Unklaren, auch nicht seine Absicht, die Hermes herausarbeitet: „Nur die Vernichtung des Anderen vermag die Überschreitung der ‚Rassengrenze‘ ein für alle Mal zu unterbinden.“

Grimms „Volk ohne Raum“ dagegen, der der nationalsozialistischen Ideologie wichtige Stichworte lieferte, auch wenn der Ausweg aus der angeblichen Übervölkerung Deutschlands nicht mehr in Afrika, sondern in Osteuropa gesucht werden sollte, blendet den Genozid und damit seine Opfer fast vollständig aus. In seiner Darstellung ist Südwestafrika menschenleer und wartet nur darauf, endlich – und natürlich von den Deutschen – besiedelt zu werden. Das Verschweigen steht hier im Dienst einer Legitimation der deutschen Kolonialpolitik nach ihrem eigentlichen Ende im Jahr 1918. Umso überraschender mag zunächst erscheinen, dass der als Cartoonist und Chronist der West-Berliner Anarcho-Szene bekannt gewordene Gerhard Seyfried in seinem ersten Roman von der gleichen Praxis Gebrauch macht: der mit fast erschreckender Naivität verfasste Roman, der vorgibt, die ‚Wahrheit‘ über die deutsche Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika zu erzählen, lässt den Krieg gegen die Herero (trotz seines Titels) und damit den Genozid in einem Zeitsprung fast völlig verschwinden. Hermes wertet dies zu Recht als eine „nachhaltige Bagatellisierung“ der deutschen Kolonialpolitik.

Eine der interessantesten Befunde von Hermes’ Studie läuft daraus hinaus, dass ästhetische Komplexität und Distanznahme zu den Implikationen des Kolonialdiskurses einander zu bedingen scheinen. Seyfrieds erzählerisch überaus schlichter Roman, der sich in seinen Mustern – wie Hermes zeigen kann – vor allem Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ intertextuell anschließt, erreicht diese Distanzierung an keiner Stelle. Ihm fehlt die Selbstreflexivität eines postkolonialen Blicks (Paul Michael Lützeler / Jochen Dubiel), der sich der Bedingtheiten des notwendigen Anschlusses an koloniale Diskurse mindestens bewusst ist, wenn er sie schon nicht gänzlich überwinden kann. In dieser Hinsicht vermag schon Franz Jungs expressionistisches Prosastück „Morenga“ (1913) zu überzeugen: Es stellt „ein frühes und seltenes Zeugnis einer dezidiert ‚linken‘ Kolonialismuskritik dar, die sich gerade nicht auf moralische Argumente beruft, sondern die Erosion kolonialistischer Mythen durch grotesk-satirische Überzeichnungen [worin Thomas Pynchon, wie Hermes in einem Exkurs zeigt, in seinen frühen Romanen „V.“ und „Die Enden der Parabel“ freilich unübertroffener Meister ist] zu erreichen sucht.“

In der deutschen Literatur bis heute unübertroffen ist allerdings Uwe Timms Montage-Roman „Morenga“, der gerade durch seine komplexe, real- mit fiktiv-dokumentarischen und vom lateinamerikanischen ‚magischen Realismus’ bezogenen fantastischen Partien vermischende Struktur zum Ausdruck bringt, dass ein wirklich angemessenes Bild der kolonialen Vergangenheit, das auch noch die Perspektive der Opfer zu berücksichtigen hätte, nicht möglich ist. Der Leser ist immer wieder gezwungen, selbst Stellung zu beziehen und seine eigene Verunsicherung während der Lektüre auf die Zusammenhänge, um die es geht, zu beziehen. An Timms „Morenga“ lässt sich somit demonstrieren, „auf welche Weise Literatur dazu beitragen kann, essentialisierende Formen des Otherings zu konterkarieren, ohne ostentativ zu belehren oder zu moralisieren.“

Darin liegt auch die Aktualität des Gegenstands: mit seiner Untersuchung der ‚Fahrten nach Südwest‘ hat Stefan Hermes nicht nur eine (literatur-)historische Untersuchung vorgelegt, sondern eine Studie über Probleme, die für die Literatur (und nicht nur die) der Gegenwart höchst relevant sind.

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Stefan Hermes: "Fahrten nach Südwest". Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904-2004).
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
308 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826040917

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