Eine Heimat in der Sprache gefunden

Der diesjährige Literatur-Nobelpreis geht an Herta Müller

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Sie zeichnet mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“, hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, das Herta Müller die mit umgerechnet rund 970.000 Euro dotierte wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zugesprochen hat.

Die 56-jährige, in Berlin lebende Schriftstellerin hat sich in ihren sprachlich ausgefeilten, bisweilen lyrisch anmutenden literarischen Werken immer wieder mit Verfolgung und Heimatlosigkeit, mit Umzügen und Neuanfängen beschäftigt. Die thematischen Eckpfeiler stammen aus ihrer eigenen, bewegten Vita.

Herta Müller, die zwölfte weibliche Literatur-Nobelpreisträgerin, wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Timisoara (Temeswar) Germanistik und rumänische Literatur, arbeitete später als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik und verlor diesen Job 1979, nachdem sie sich geweigert hatte, mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten. Mit Gelegenheitsjobs als Deutschlehrerin hielt sie sich materiell über Wasser – immer den Atem der Securiate-Spitzel im Nacken.

In diesem Jahr war dieses Thema noch einmal im Gespräch. In einem umfangreichen Beitrag („Die Securitate ist noch im Dienst“) in der Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete Herta Müller darüber, dass es beim rumänischen Geheimdienst über viele Jahre hinweg Bestrebungen gab, sie im Westen öffentlich zu diskreditieren. So sollen von der Securitate entworfene Briefe an deutsche Rundfunkanstalten geschickt worden sein, in denen sie als Agentin beschuldigt wurde.

„Nur die Literatur gibt einem die Möglichkeit, aus der Geschichte den einzelnen Menschen herauszuheben. Sie erlangt ihre Wahrheit durch Erfindung, imaginiert sie durch Sprache“, hatte Herta Müller kürzlich in einem Interview erklärt. Das Medium Sprache wurde für sie in der schwierigen Zeit im Banat eine Ersatz-Heimat und ist es bis heute geblieben. Ihr erster Prosaband „Niederungen“ konnte nach einer wahren Odyssee durch die Zensurbehörden 1984 in seiner ursprünglichen Fassung in Deutschland erscheinen. „Es kamen ständig Verhöre, und derselbe Geheimdienst, der mich aus der Fabrik geschmissen hatte, bezeichnete mich als parasitäres Element. In dieser Klemme begann ich mit den Prosastücken der ,Niederungen’, um mich meiner selbst zu vergewissern“, erinnert sich die Autorin an ihre schriftstellerischen Anfänge.

Ging es in ihrem Erstling, für den sie 1984 mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde, um die Rückständigkeit in der dörflichen Enklave des Banats und im zweiten Buch „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“ (1986) um eine Synthese aus lokalem Brauchtum und Historie, so stand in ihrem damals gefeierten, schmalen Band „Barfüßiger Februar“ (1987) das eigene Erleben im Mittelpunkt. Es ging um das Abschiednehmen von Rumänien, denn im Frühjahr 1987 war sie mit ihrem damaligen Ehemann, den Schriftstellerkollegen Richard Wagner, nach langwierigen Schikanen aus dem Banat nach West-Berlin übergesiedelt. „Mir ist es nicht schwergefallen von Rumänien wegzugehen. Es geht in Rumänien zur Zeit um das nackte Überleben. Von Kultur kann schon gar nicht mehr die Rede sein“, hatte sie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erklärt.

Trotz des ihr widerfahrenen Leids hat die Schriftstellerin nie zum polternden politischen Rundumschlag ausgeholt und sich nicht als Vorzeige-Dissidentin von den Medien vereinnahmen lassen. „Der Diktator ist ein alter Mann. Seit zwanzig Jahren überm Land. Der Vater aller Toten.“ So lakonisch und doch treffend liest sich eines der wenigen konkreten politischen Statements in „Barfüßiger Februar“.

Diverse Gastprofessuren in Deutschland, England und in den USA sowie zahlreiche Literaturpreise erleichterten ihr den Neuanfang im Westen. Sie schrieb kontinuierlich, aber eher unspektakulär, auf hohem Niveau weiter. Es folgten die Bände „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992), „Herztier“ (1994), „Heut wär ich mir lieber nicht begegnet“ (1997), „Im Haarknoten wohnt eine Dame“ (2000) und „Der König verneigt sich und tötet“ (2004). Der ganz große literarische Wurf ist Herta Müller in diesem Jahr gelungen – mit ihrem Roman „Atemschaukel“ (wie fast alle neueren Werke bei Carl Hanser erschienen), der auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises vertreten ist. „Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt“, erklärte Herta Müller über das Zustandekommen ihres neuen, unter die Haut gehenden Romans, dessen Handlung in einem sowjetischen Arbeitslager für Rumäniendeutsche angesiedelt ist.

Der aus Siebenbürgen stammende Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Pastior (1927-2006) hat ein solches Lager nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs überlebt – ebenso Herta Müllers Mutter, die aber nicht die Kraft fand, über ihre Erlebnisse zu reden. Die glasklare Sprache in der „Atemschaukel“ evoziert beängstigende Gefühle und setzt bei der Lektüre handfeste Existenzängste frei. Mehr kann Literatur kaum leisten – und insofern darf man der Stockholmer Akademie aufrichtig zur Wahl gratulieren.