Willkommen im Chaos

Radka Denemarková schildert in ihrem Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ die Rückkehr in eine fremd gewordene Heimat

Von Katja SchickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Schickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gita Lauschmannová kehrt heim, erschöpft und voller banger Hoffnung. Sie umfasst vorsichtig die Klinke – ein Entwurf ihrer Mutter – öffnet die Tür des Hauses, in dem sie noch drei Jahre zuvor gelebt hat, findet die gesamte Wohnungseinrichtung vor, alle Möbel, das Geschirr, die Gläser, sogar den Matisse und Cezanne an der Wand, den Hut des Vaters im Flur, als hätte der ihn aus ungewohnter Nachlässigkeit einfach einmal vergessen. Alles ist schmerzhaft vertraut, aber am Tisch sitzt ein unbekannter Mann, und eine ebensolche Frau füllt seinen Teller mit Linsensuppe: „Lauter fremde Leute“ nannte Louis Fürnberg ein Gedicht, das die Rückkehr von Überlebenden aus den Lagern, von – vorher in alle Welt verstreuten – Emigrierten beschreibt und ihre Erfahrung, dass sie dem Tod zwar knapp entkommen, die meisten ihrer Familienangehörigen, ihres Freundes- und Bekanntenkreises aber ermordet und sie nun alleine sind, keinen Platz mehr haben, der ihnen gehört, dass man ihnen allen Besitz streitig macht und aggressiv zeigt, diesen auch um jeden Preis zu behalten. Eine besonders perfide Umkehrung der Tatsachen ist die Behauptung, dieser Besitz sei sowieso unrechtmäßig erworben worden und die Vorbesitzer seien Nazis, zumindest Nazi-Kollaborateure gewesen und zu Recht enteignet worden.

Die Situation ist schon häufiger beschrieben worden; die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková hat jedoch eine ganz eigene suggestive und emotionale Form gefunden, die das Ausgeliefertsein, die Hilf- und Ausweglosigkeit der 16-jährigen deutsch-tschechischen Jüdin Gita, den Horror der Gewalterfahrungen und ihren 60 Jahre währenden Kampf um Recht und Gerechtigkeit beeindruckend, auch bedrückend und quälend, immer jedoch fesselnd beschreibt.

Die neuen Herren im Dorf (nebst ihren Frauen) haben sofort, drei Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges, neue Verhältnisse geschaffen und allen Besitz unter sich aufgeteilt. Sie sind eine verschworene Gemeinschaft geworden, die gegen „den Feind“ von Außen zusammenhält, in diesem Fall sind es die Deutschen, auch die deutschsprachigen Juden. Man ist nicht gewillt, irgendetwas freiwillig wieder herzugeben (ein Umstand, der in vielen Fällen bis heute gilt). Das Unrechtmäßige und Amoralische ihrer Handlung kann offenbar nur mit unmäßiger Rohheit und Kaltblütigkeit durchgesetzt werden. Das Mädchen Gita, gerade einem Vernichtungslager entkommen, wird als Nazi beschimpft, als „dreckige Deutsche“ gebrandmarkt, grausam misshandelt und entkommt ihrem geplanten Tod (sozusagen ein zweites Mal) nur knapp mithilfe ausgerechnet der Frau, die nun ihr Elternhaus bewohnt und es zeitlebens beanspruchen wird. Bis zum Zeitpunkt der Deportation aller Familienangehörigen weiß das Kind nicht, dass es jüdisch ist. Man spricht wie selbstverständlich Deutsch und Tschechisch, die Kinder besuchen tschechische Schulen und die Eltern wählen in der Ersten Republik die tschechische Staatsbürgerschaft. So assimiliert ist diese Familie, dass im Esszimmer ein Bild der Jungfrau Maria hängt und der wohlhabende Unternehmer Lauschmann, der fast dem ganzen Ort Arbeit und Brot gibt, die alte Synagoge als Lager nutzt.

Nach dem Krieg erinnert man sich umgehend daran, dass die Familie Lauschmann jüdisch und deutschsprachig war und denunziert sie bei den neuen staatlichen Organen. Dieser Umstand liefert gleichzeitig die Legitimation für das Beharren auf Rechtmäßigkeit der Enteignung und die moralische wie politische Notwendigkeit, sich gegen besagten Feind zu schützen.

Bereits Anfang der 1950er-Jahre versucht Gita über eine Teilrückgabe zu verhandeln; selbst hochschwanger möchte sie nur das Haus, früher von allen in der Gemeinde liebevoll „das Schlösschen“ genannt, zurück, die Fabrikgebäude, Werkstätten, die Schnapsbrennerei sollen in staatlichem Besitz bleiben können. Vor allem geht es ihr um die Rehabilitierung ihres Vaters. Man begegnet ihr jedoch mit unverhohlenem Hass, flankiert von antisemitischen und nationalistischen Parolen (die berüchtigten Slanský-Prozesse sind gerade vorbei), verhöhnt sie erneut als Nazischwein, bekräftigt die Vorwürfe gegen ihren Vater, den deutschen Ausbeuter und vermeintlichen „Ehren-Arier“.

2005, nach der Rehabilitierung der Familie, beschließt sie nach nunmehr 60 Jahren diese Geschichte zu Ende zu bringen. Jetzt hat sie es hauptsächlich mit der Söhne- und Töchtergeneration zu tun, die ihr mit noch selbstgefälligeren und schäbigeren, weil geborgten Ressentiments und Vorurteilen begegnet, die auf keinen Fall etwas hergeben und die unangenehme „deutsche Alte“ (die seit Kriegsende als Tschechin in Prag lebt) so schnell wie möglich wieder los werden will. Wie sie überhaupt überleben konnte, wenn sonst keiner überlebt hat, ob sie vielleicht gar nicht in einem Lager gewesen sei, das sind Fragen, die die ,ehrenwerten‘ Gemeindemitglieder beschäftigen. Nebenbei wird ihre Unzurechnungsfähigkeit diskutiert und Gier, Neid, und Falschheit konstatiert, von denen sie sich leiten ließe – die klassischen Projektionen also.

Gita ist dennoch entschlossen, diese Geschichte zu bewältigen, sie zieht alle Register, nicht weil sie etwa dorthin zurück, weil sie Eigentum für sich reklamieren möchte, sondern weil sie, zeitlebens mit Traumata, mit Schuld- und Schamgefühlen kämpfend, diejenigen, die bisher keine Verantwortung für ihr Tun übernommen haben, konfrontieren will. Es gefällt ihr, sie in Aufregung zu versetzen. Sie tut dies mit wunderbar bissiger Lakonie, mit Chuzpe und koketter Schnoddrigkeit, also mit heißem Herzen und kaltem Verstand, mit einem endlich einmal genüsslich eingestandenen Hass auf die Verursacher ihres Schmerzes (zu denen eben nicht nur die Nazi-Deutschen, sondern auch Tschechen gehören), vor allem aber mit dem sowohl selbstverständlich anmutenden wie verzweifelten Mut einer Frau, die zu viel erlebt hat, als dass sie weiter stellvertretend fremde Belange ausfechten möchte. Gita will von dem Geld, das sie vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds als Entschädigung für die Zeit in den Lagern erhalten hat, ihrem Vater ein Denkmal besonderer Art setzen, das vielleicht ein Zeichen der Aussöhnung werden könnte (Geld dafür also eigentlich indirekt von Adolf Hitler, daher der Titel der tschechischen Originalausgabe).

Der Streit, wem dieses „herrliche Fleckchen Erde“ gehört, interessiert sie nicht mehr. Beide Varianten sind Kapitelüberschriften im Buch. Trotz einiger Ungereimtheiten, vor allem die Konstruktion des jüdischen Hintergrunds von Gita betreffend, ist es die Sprache, die sofort mitreißt: Denemarková verfügt über einen außergewöhnlich luziden Sprachschatz, einen Reichtum an überraschenden, poetischen Bildern, mit denen sie essenzielle körperliche wie seelische Zustände beschreiben kann. Sie zeigt die Wunden und den Schmerz scharf und präzise – und dass Vergangenheit nicht einfach vergeht, dass wir alle Zeiten in uns tragen, in jedem Augenblick unseres Lebens. Am Ende heißt es: „Worte können viel Übles anrichten. Verhindern können sie nichts.“ Das können nur Menschen.

Titelbild

Radka Denemarková: Ein herrlicher Flecken Erde. Roman.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
294 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421044044

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