Richter, Mörder und Jahrhundertwende

Jaume Cabrés historischer Roman „Senyoria“ führt den Leser ins Barcelona des Jahres 1799

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit die kleine spanische Region Katalonien mit ihrer großen literarischen und geschichtlichen Tradition 2007 als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, werden katalanische Autoren und ihre Werke auch in Deutschland nicht mehr nur als Geheimtip gehandelt. Im Gegenteil. Mit seinem im gleichen Jahr zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Stimmen des Flusses“ hat der 1947 in Barcelona geborene Jaume Cabré gleich einen internationalen Bestseller geschrieben und dabei maßgeblich zum Interesse an der katalanischen Kultur, Geschichte und Literatur beigetragen. Und das, obwohl dieser Roman alles andere als gefällige und leichte Lesekost bietet, sondern sowohl erzähltechnisch als auch vom historischen Hintergrund her dem Leser einiges abverlangt. Auch Autoren der älteren Generation, die den Spanischen Bürgerkrieg noch miterlebt haben wie Mercè Rodoreda oder Salvador Espriu, haben seit dem Auftritt Kataloniens auf der Buchmesse wieder starkes Interesse beim deutschen Lesepublikum gefunden. Verlegerische Glanzleistungen wie die vorzügliche dreibändige Ausgabe der Werke Esprius von Fritz Vogelgsang im Amman-Verlag (2007) bildeten hierfür freilich eine gute Voraussetzung.

Die politische Geschichte der autonomen Region zwischen Pyrenäen und Mittelmeer im 20. Jahrhundert ist nachhaltig geprägt worden von blutigen Auseinandersetzungen der Katalanen mit den Nationalisten Francos nach dem Ende der Zweiten Republik. Francos Sieg und die Niederlage des katalanischen Widerstandes jedoch haben tiefe soziale Risse und Verwerfungen bis hinein in einzelne Familien hinterlassen, was in Cabrés Roman „Die Stimmen des Flusses“, aber auch in den jüngst von Maria Barbal erschienenen Texten („Inneres Land“, deutsch 2009; „Wie ein Stein im Geröll“, deutsch 2007) thematisiert wurde. In Cabrés jetzt in einer meisterhaften deutschen Übersetzung von Kerstin Brandt publiziertem Roman „Senyoria“ ist die Handlungszeit in das Jahr 1799 verlegt, wenige Tage vor der Jahrhundertwende. Der Roman ist allerdings älter als „Die Stimmen des Flusses“ und bereits 1991 im spanischen Original erschienen, was vor allem im Hinblick auf Cabrés eigenwillige und virtuose Erzähltechnik interessant ist, die sich hier schon andeutet.

Den Mittel- und Ausgangspunkt des Romans bildet der Mord an einer französischen Sängerin, die nach ihrem Auftritt in Barcelona tot in ihrem Zimmer aufgefunden wurde. Schnell gerät der aus einfachen Verhältnissen stammende junge Musiker und Dichter Andreu Perramon ins Visier der Ermittlungen, vor allem auch deshalb, weil er im Besitz von Unterlagen ist, die Gerichtspräsidenten Don Rafel Massó i Pujades – kurz und mit Ehrentitel Sa Senyoria genannt – in arge Bedrängnis bringen würden. Genaueres erfährt der Leser freilich erst einmal nicht, wenngleich im Text immer wieder nach guter Krimimanier Hinweise eingeflochten und Fährten gelegt werden, die auf Zusammenhänge zwischen dem vermeintlichen Verbrechen Perramons und der Vergangenheit Sa Senyorias hindeuten sollen. Eingebettet ist der Kriminalfall in eine atmosphärisch dicht geschilderte historische Kulisse Barcelonas im späten 18. Jahrhundert, zur Zeit der Herrschaft König Carlos IV. aus dem Hause Bourbon, dessen Familie seit 1700 in Spanien regierte und aus deren Geschlecht auch der heutige König Juan Carlos I. von Spanien hervorgegangen ist. In den Beschreibungen von Bällen und Festen der hohen Gesellschaft Barcelonas werden die zeitgenössischen Diskurse zur Musikkultur, Mode und Alltagswelt eingeflochten, die auch eine genaue Auseinandersetzung des Autors mit der Zeit des späten Ancien Régime verraten.

Die Geschichte des als phlegmatisch, genusssüchtig aber auch nachdenklich charakterisierten Don Rafel ist gleichzeitig auch die Geschichte eines Aufsteigers, der es ohne nennenswerten familiären Hintergrund zu gewaltigem Reichtum und einer der mächtigsten Figuren der barcelonesischen Justiz und Gesellschaft gebracht, sich damit aber auch etliche Feinde und Neider gemacht hat. In einer Welt, wo Herkunft und Beziehungen alles sind, wirkt Don Rafel fast schon wie ein Fremdkörper und sein Fall aus höchster Höhe scheint vorprogrammiert. Kunstvoll wird der irdischen Ordnung durch die Bezeichnung der drei Teile des Romans nach Sternformationen („Im Zeichen des Orion“, „Der Schreckensschrei der Plejaden“, „Der unberechenbare Pluto“) eine kosmische Ordnung gegenüber gestellt, deren mythologische Namensgeber und verwickelten Entstehungen und Beziehungen nach ähnlichen Prinzipien und Mechanismen funktionieren wie die Gesellschaft Barcelonas im Jahre 1799. Doch überlässt der Autor es dem Leser selbst, welche Aspekte aus dem großen Anspielungspotential der Sternformationen für die geschilderte Handlung einen Zusammenhang herzustellen vermögen. Gleichzeitig aber auch durchziehen Hinweise auf die Kosmologie, Mythologie und vor allem die zeitgenössische Astronomie den gesamten Roman. Für die Symbolstruktur des Romans sind besonders die kursiv gehaltenen Vorspänne zu den Büchern eins und zwei, die als Zitate aus einem fiktiven astronomischen Werk von Jacint Dalmases aus dem Jahre 1778 präsentiert werden und anspielungsreich – in Ansätzen – nicht nur die historischen Wissensstand der Astronomie wiedergeben, sondern auch zahlreiche Bezüge zum eigentlichen Text des Romans herstellen.

Don Rafel ist begeisterter und dilletierender Astronom, der sich gleichwohl mit – in diesem Fall historisch verbürgten – astronomischen Theorien von Félix Amat de Paláu y Pons (1750–1824) auseinandersetzt. Sein Interesse gilt allerdings nicht ausschließlich der Schönheit und Ruhe der Himmelsgestirne. Vielmehr betrachtet er mit seinem neuen Teleskop nachmittäglich auch ein gegenüber gelegenes Zimmer seiner heimlichen, aber nie erreichten Liebe Gaietana Baronin Xerta, um vor dem prüden Alltagsleben mit seiner frömmelnden Frau zu fliehen. Als literarisches Motiv finden sich Sterne und Gestirne als wichtiges Strukturmoment für den Text durchgehend von der Bibel mit dem freilich positiv besetzten Stern von Bethlehem bis zu Schillers Wallenstein-Trilogie, in der die Hauptfigur die Sterne und damit seine Zukunft falsch deutet. Der Ich-Erzähler in Heinrich Heines satirischen „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“ indessen räumt völlig desillusioniert mit der Schönheit der Sterne auf, die auch offensichtlich nur noch für einen negativen Zusammenhang zum menschlichen Leben dienen können: „Wohl begriff ich jetzt, daß die Sterne keine liebende mitfühlende Wesen sind, sondern nur glänzende Täuschungen der Nacht, ewige Trugbilder in einem erträumten Himmel, goldne Lügen im dunkelblauen Nichts.“ Auch Don Rafel erliegt zu lange seinen Trugbildern sowohl bei der Sternenbetrachtung als auch bei der Einschätzung seiner Lage, so dass ihm am Ende nur ein Ausweg bleibt.

Hinter der historischen Kulisse sind es aber gerade, wie schon in den historischen Romanen des 19. Jahrhunderts, als diese Gattung im Zuge von Walter Scotts „Ivanhoe“ eine unerhörte Popularität erlangte, die überzeitlichen zentralen Themen und Motive wie Machtmissbrauch, Rechtsbeugung und Intrigen, die das Selbstverständnis des historischen Romans als Medium der Auseinandersetzung mit der Gegenwart durchscheinen lassen.

Aus der Flut der heute erscheinenden historischen Romane sticht Cabrés „Senyoria“ aber vor allem aufgrund seiner virtuosen Erzählweise und dem Einsatz verschiedener intertextueller Techniken heraus. Die Tendenz in einzelnen Passagen zur oft unvermittelten Vermischung von Erzählerstimme und personalisierter Figurenperspektive, der virtuose Wechsel von Erzähler und Figurenrede, erlebter Rede und innerem Monolog, bei dem bisweilen auch die zeitlichen Ebenen verschwimmen und ineinander übergehen, werden zwar noch nicht so häufig und in extremer Form eingesetzt wie in „Die Stimmen des Flusses“, doch deuten sie schon auf die Bedeutung narratologischer Kunstgriffe bei Cabré voraus. Zusätzlich wird das komplexe Gefüge der einzelnen Texte zueinander insofern thematisiert als etwa eines der dem Roman vorangestellten Motti von einer der (fiktiven) Romanfiguren selbst stammt, nämlich von Don Rafel Massó. So hat Cabré mit seinem Roman nicht nur einen spannenden Kriminalfall vorgelegt, sondern auch der heute populären Form des historischen Romans mit seinen vielen Beispielen, die oft genug ein fehlendes historisches Bewußtsein für die Gattung verraten, ein anspruchsvolles Profil (zurück-)gegeben.

Titelbild

Jaume Cabré: Senyoria. Roman.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
445 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421024

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