Jürgenman

Nichts ist ungewisser als die Gegenwart: Thomas von Steinaecker legt mit „Geister“ seinen zweiten Roman vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als vor zwei Jahren die kleine Madeleine McCann verschwand, ließ sie nicht nur ihre Eltern zurück. Sondern auch zwei Geschwister. Das Zwillingspaar Amelie und Sean war 2007 erst zwei Jahre alt, ihr Leben noch ein unbeschriebenes Blatt – jetzt wird es wohl, auf die eine oder andere Weise, im Zeichen der vermissten Schwester stehen. Mag sein, dass den Zwillingen einmal bewusst werden wird, dass die trotz ihrer Abwesenheit omnipräsente Madeleine auf all den Fotos niemals älter wird. Mag sein, dass dieser Moment für sie alles verändert.Bei Jürgen Kämmerer ist das so. Seine Schwester Ulrike verschwand bereits einige Jahre vor seiner Geburt, er kennt sie also nur von den überall im Haus stehenden Fotos. Thomas von Steinaeckers Roman „Geister“ beginnt mit der Premiere eines Dokumentarfilms, der über das Schicksal der Familie Kämmerer gedreht wurde; hinterher antworten Jürgens Eltern auf Publikumsfragen. Jürgen ist zu diesem Zeitpunkt etwa 17 Jahre alt, ein „Metaller“ mit mehr als nur alterstypischen Ängsten und Identitätsproblemen. Würde es nach ihm gehen, seine Eltern zögen endlich einen „Schlussstrich“, statt sich immer weiter mit Ulrike und dem damals einzigen Verdächtigen zu beschäftigen. Für ihn ist Ulrike jedoch nicht minder wichtig: In einem Tagebuch unterhält er sich mit ihr, seiner „großen Schwester“.Um sich abzulenken, vergräbt sich Jürgen in seinen Kinosessel und stellt auf „Schnellvorlauf“: eine mentale Technik, mit der er das Unangenehme überspringt und sich gleichsam in die Zukunft beamt. Wenn man so will, ist Steinaeckers Roman, der Ende der 1980er-Jahre einsetzt und bis ins Internet-Zeitalter reicht, ebenfalls ein Schnellvorlauf: Mit jedem Kapitel springt man ein paar Jahre weiter voran und erhält einen neuen Ausschnitt aus Jürgens Leben; alles Dazwischenliegende, Ausgesparte muss sich der Leser erst rekonstruieren.Dieses Leben entwickelt sich etwas anders, als Jürgen es sich in seiner Jugend vorgestellt hat: Aus ihm wird kein Psychologe, sondern ein Physiotherapeut, er heiratet zwar und hat eine Tochter, doch die Ehe scheitert nicht zuletzt an Jürgens Verlustängsten; eine kaputte, tragische Existenz. Wo immer er gerade ist, wie immer es ihm geht, seine Schwester und das mediale Interesse an ihr verfolgt ihn: Jahre später wird eine zweite Dokumentation gedreht, angeblich lebt Ulrike heute unter anderem Namen in Budapest; ein Irrtum, wie sich zeigt.Thomas von Steinaecker, Jahrgang 1977, debütierte 2007 mit „Wallner beginnt zu fliegen“, dem vielleicht originellsten Familien- und Zeitroman der letzten Jahre. Darin schreibt Wendy, die jüngste der Wallners, nicht nur über ihren verstorbenen Vater, sondern auch über die Frage nach dem Effekt, den der Siegeszug der Bildmedien auf die Geschichtsschreibung hat. „Geister“, könnte man sagen, handelt vom Effekt der Bildmedien auf das Begehren jenes Ichs, von dem es schon vor über hundert Jahren einmal hieß, es sei „unrettbar“. Bei Steinaecker geht es daher nicht nur um individuelle Traumata, sondern um das Lebensgefühl einer Generation.Wie Steinaeckers Erstling ist auch „Geister“ ganz im Präsens geschrieben, in einer geschliffen klaren, beinah frostigen Prosa. Doch ist nichts ungewisser und bedrohter als die ewige Gegenwart: „Es ist schon ein schmaler Grat, auf den er da geraten ist: Nicht nur die Version der Vergangenheit, an die er immer glaubte, kann sich innerhalb von Sekunden, bei näherer Betrachtung, als Fiktion herausstellen – auch die Gegenwart, wie er gerade hier so herumliegt: schon morgen wird ihm das, wenn er es sich ins Gedächtnis ruft, seltsam unwirklich vorkommen.“ Jürgens Gedächtnis spielt ihm Streiche, Szenen aus Filmen ersetzen reale Erinnerungen, Déjà-vu-Erlebnisse begleiten ihn von Jugend an.Nicht nur die Vergangenheit lässt Jürgen nicht los, auch die Zukunft: Seine Tochter ist noch gar nicht geboren, da kauft er ihr schon erste Bücher. Spricht er mit seiner Frau, stellt er sich vor, wie es wäre, hätte er damals eine andere geheiratet. Alternative Lebensentwürfe, Fernsehbilder, Träume und Wünsche schieben sich ständig vor das Hier und Jetzt.Im letzten Kapitel scheint Jürgens Begehren nach der Schwester auf überraschende Weise gestillt zu werden – von einer Berliner Comiczeichnerin namens Cordula, die eines Tages mit ihm Kontakt aufnimmt. Cordula identifiziert sich mit Ulrike; hat nach ihrem Vorbild eine fiktive Figur erfunden und lässt diese Figur alles erleben, was sie selbst erlebt. Die Comics haben längst eine große Fangemeinde im Internet, als Jürgen sie erstmals zu Gesicht bekommt. Für ihn ist die Begegnung mit Ute – wie die Figur heißt – und der Zeichnerin wie eine Erlösung: Die Comic-Welt bietet ihm eine Art Seelen-Speisung, ermöglicht es ihm, ein Stück Jugend nachzuholen. Aus Jürgen wird der „Comic-Jürgen“: Wie die Fans wartet er sehnssüchtig auf die nächste Folge über „Jürgenmans“ Beziehung mit Ute – während ihm sein reales Leben endgültig entgleitet. Doch was heißt hier schon real, wo Leben und Fantasie nach Art eines Möbiusbandes vereint sind.Den Comic-Part an Steinaeckers Roman hat auch diesmal die Münchner Grafikerin Daniela Kohl beigesteuert: Bildergeschichten, die an den Minimalismus des Amerikaners Chris Ware erinnern, eingebettet in die ganz aus personaler Sicht erzählte, sich sprachlich eng an das Bewusstsein des Protagonisten anschmiegende Geschichte. Die Wirkung dieses Text-Bild-Hybridwerkes ist verblüffend: eine Emotionalisierung, wie man sie lange nicht mehr erlebt hat. Keine Frage: Die viel beschworene Hürde des „zweiten“ Buches – der Autor hat sie glänzend gemeistert. Mit „Geister“ gehört der Wahlmünchner neben Paul Brodowsky und Thomas Pletzinger zu den vielversprechendsten Vertretern einer anspruchsvollen, sich der medialen Herausforderung stellenden jungen Gegenwartsliteratur.

Titelbild

Thomas von Steinaecker: Geister. Roman.
Mit Comics von Daniela Kohl.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2008.
204 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783627001506

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