„treffliche Historie“!

Florian Mehltretter erzählt Matteo Boiardos „Orlando innamorato“ nach

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die sprichwörtliche deutsche Italienbegeisterung beschränkt sich auf literarischem Gebiet schon seit längerer Zeit fast ausschließlich auf Gegenwartsautoren. Das von Frank-Rutger Hausmann und Volker Kapp verantwortete, mehrbändige Verzeichnis deutscher Übersetzungen aus dem Italienischen kann für erstaunlich viele bedeutende Namen und Werke keine nach der Romantik entstandenen, deutschen Fassungen mehr nachweisen. Einige dieser Übersetzungen wurden in verdienstvollen Reihen wie Winklers Weltliteratur noch bis Ende des 20. Jahrhunderts neu aufgelegt, aber auch davon ist mittlerweile das meiste vergriffen. Mit den Neuübersetzungen der „Confessioni di un italiano“ von Ippolito Nievo und der „Promessi Sposi“ von Alessandro Manzoni, die im Grunde die ersten vollständigen deutschen Fassungen dieser Texte präsentierten, sind in den letzten Jahren erfreulicherweise zumindest bedeutende Romane des 19. Jahrhunderts erstmals einem nichtspezialisierten Publikum wirklich zugänglich geworden, aber für die Zeit zwischen Dante im 14. und Foscolo im frühen 19. Jahrhundert ist die Masse an Texten, die in Italien zu den unumstrittenen Klassikern zählen, in Deutschland aber noch nie oder seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr übersetzt worden sind, überraschend groß.

Um so erfreulicher ist es, wenn nun mit der nacherzählenden deutschen Ausgabe von Matteo Boiardos Ende des 15. Jahrhunderts erschienenem „Orlando innamorato“ („Der verliebte Roland“) einer der einflussreichsten und sicher auch einer der lustigsten Texte der italienischen Renaissance in einer Mischung aus Nacherzählung und Versübersetzung wieder greifbar ist. Der Münchener Romanist Florian Mehltretter bietet nach einem Prinzip, nach dem 1970 in Italien bereits Italo Calvino mit großem Erfolg Ariostos „Orlando furioso“ („Der rasende Roland“) bearbeitet hatte, unterschiedlich lange Auszüge aus der deutschen Übersetzung von Johann Diederich Gries aus den 1830er-Jahren, die von Mehltretters angenehm zu lesenden Prosapassagen gerahmt und begleitet werden. Diese Passagen vermischen auf unaufdringliche Weise die Nacherzählung der Handlung des „Verliebten Roland“ mit der Erläuterung der literarhistorischen Voraussetzungen des Texts in der Karls- und Rolandsepik des Mittelalters, der sozial- und kulturgeschichtlichen Bedingungen der Entstehung des Werks des humanistisch gebildeten Hofmanns Boiardo am Renaissancehof der Herzöge von Este in Ferrara und der weiteren Dichtungen, die an Boiardo anschließen, insbesondere des „Orlando furioso“ von Ariost. Mehltretters elegant ausgestattete, mit italienischen Illustrationen des „Orlando innamorato“ aus dem 19. Jahrhundert und einem nützlichen Verzeichnis der im „Verliebten Roland“ auftauchenden Personen versehene Ausgabe, die von der Stiftung Lyrik Kabinett München verlegt wurde, erfüllt damit auf sehr begrüßenswerte Art und Weise einen Anspruch, den auch der Übersetzer Gries mit seiner sprachartistischen deutschen Fassung des gesamten Texts in gereimten Oktaven (also jeweils acht Verse mit drei gekreuzten und einem Paarreim) bereits mit seiner Arbeit verbunden hatte, nämlich auch einem des Italienischen nicht oder nicht genügend mächtigen Publikum „den Zugang zu einem so herrlichen und so wenig bekannten Gedichte“ zu ermöglichen.

Vermutlich ist diese Art der Präsentation eines im Original mittlerweile selbst für muttersprachliche Leser sperrigen Werks sogar die einzig zeitgemäße Form, einem derart voraussetzungsreichen Text überhaupt noch ein größeres Lesepublikum zu erschließen. Allein mit einem vollständigen Neuabdruck der Übersetzung von Gries wäre wenig gewonnen, da deren Deutsch von 1830 an vielen Stellen seinerseits erläuterungsbedürftig wäre und man auch kaum noch auf LeserInnen hoffen kann, die die nötige Geduld für die Lektüre eines so langen Werks in Versform aufbrächten. In den durch Mehltretters ein- und überleitende Passagen wohlvorbereiteten homöopathischen Dosen ist die Stanzenübersetzung von Gries jedoch ein großes Lesevergnügen. Da die „Andere Bibliothek“ bereits 2004 eine deutsche Übersetzung von Ariosts „Rasendem Roland“ in der Nacherzählung von Italo Calvino vorgelegt hat (mittlerweile bei dtv erhältlich), die für die Stellen, an denen Calvino Ariosts Verse zitiert, auf die ebenfalls von Johann Diederich Gries geschaffene deutsche Fasssung zurückgreift, darf man vielleicht hoffen, dass auch die anderen von Gries übersetzten italienischen Ritterepen, nämlich Torquato Tassos „Befreites Jerusalem“ und Niccolò Forteguerris „Ricciardetto“ in ähnlicher Weise in einer Mischung aus erläuternder Prosazusammenfassung und exemplarischen Verspassagen wieder zugänglich gemacht werden könnten. Gerade in Zeiten einer verbreiteten Begeisterung für Fantasyliteratur, für Harry Potter und den Herrn der Ringe, wäre eine solche Einstiegsmöglichkeit in diese ansonsten nur noch Spezialisten offene Welt der fliegenden Drachen, Zauberer, Hexen, Monster und Feen sehr zu wünschen, erst recht, wenn diese Kurzfassungen die Qualität von Mehltretters Boiardo hätten.

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Der verliebte Roland des Matteo Maria Boiardo. Nacherzählt und kommentiert von Florian Mehltretter.
Herausgegeben von Ursula Haeusgen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Johann Diederich Gries.
Lyrik Kabinett, München 2009.
211 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776179

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