Geboren wider Willen

Warum anfangen? Ludger Lütkehaus ergänzt die Lebenskunst

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Möchtest du geboren werden?“, ist eine unsinnige Frage. Aber einer talmudischen Geschichte zufolge wurde sie uns allen einmal gestellt, vom Schöpfer persönlich. Wer Gottes Angebot ablehnt, muss keine Strafe befürchten, er wird nur wunschgemäß aus dem Buch des Lebens gestrichen. Folglich müssten wir alle einst mit „Ja“ geantwortet haben. Warum nur kann sich keiner daran erinnern?

Bemerkenswert ist diese Vorstellung, weil sie auf einen philosophischen Skandal reagiert, den das abendländische Denken bis heute geflissentlich ignoriert: das „Diktat der Geburt“, wie Ludger Lütkehaus ihn nennt. Steht doch am Beginn des Lebens gerade keine individuelle Entscheidung, sondern ein Akt ultimativer Fremdbestimmung. Von ihm wird wie selbstverständlich behauptet, das Subjekt habe ihn als Geschenk anzunehmen und seinen Erzeugern für alle Zeit dankbar zu sein. Da die Philosophie zwar schon seit Sokrates mentale Sterbehilfe offeriert, aber dafür einer vollständigen „Geburtsvergessenheit“ unterliegt, fordert der Freiburger Philosoph als überfällige Ergänzung der Lebenskunst eine „Natologie“: eine Geburtshilfe als Pendant zur „Thanatologie“.

Sie hätte Antworten zu geben darauf, warum das angebliche Geschenk des Lebens meist nur schwer von einer Last zu unterscheiden ist. Warum das Ungeborene ohne das Geschenk durchaus nicht ärmer wäre. Oder ob und wie man als Geborener wider Willen „seinen Eltern rückwirkend Prokura erteilen (kann) für den Koitus, der zu diesem Leben führte“ (Peter Sloterdijk). Schließlich hätte ein Ausstieg aus dem Geburtenkreislauf, wie ihn etwa das fernöstliche Denken empfiehlt, einen unbestreitbaren Vorteil: Ohne den „Nachteil, geboren zu sein“ (Emil Cioran), auch kein Tod: „der unterbliebene Anfang hätte mit dem Leben sogar das erlösende Ende erübrigt“, so Lütkehaus. Für viele zerbröselt spätestens mit dem Wissen, dass nicht nur man selbst, sondern auch der geliebte Andere einst sterben muss, der letzte Rest des sogenannten Urvertrauens. Da liegt der Gedanke nahe, das Geschenk lieber wieder zurückzugeben.

„Vom Anfang und vom Ende“ heißt der jetzt bei Suhrkamp erschienene, in heiterer Gelassenheit gehaltene und erstaunlich humorvolle Abriss des von Lütkehaus vertretenen „vollendeten Nihilismus“, wie er ihn in seinen Hauptwerken „Nichts“ (1999) und „Natalität“ (2006) konzipiert hat. Das Bändchen wirft nicht nur ein neues Licht auf aktuelle Debatten um sinkende Geburtenraten, sondern sollte auch Eltern und solchen, die es werden wollen, Pflichtlektüre sein. Folgert doch Lütkehaus mit Immanuel Kant aus der „Biodizee-Frage“ umfassende Anspruchs- und Freiheitsrechte der Kinder anstelle der ihnen bislang auferlegten Dankes- und Subordinationspflichten. Wer als Schöpfer seinen Sprösslingen nicht mehr bietet als eine verfehlte Schöpfung, läuft Gefahr, beim nächsten Mal ein Nein zu hören.

Titelbild

Ludger Lütkehaus: Vom Anfang und vom Ende. Zwei Essays.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
92 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458173953

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