Gestrandet im Nirgendwo

Über Aleksander Hemons Roman „Lazarus“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

„Zuhause ist, wo jemand merkt, dass du nicht mehr da bist“, so versucht Vladimir Brik, der Protagonist in Alexander Hemons neuem Roma „Lazarus“ seine Sehnsucht nach Dazugehörigkeit und Heimat zu beschreiben. Sein Lebensgefühl ist geprägt von der Ruhe- und Rastlosigkeit eines Exilanten: Als die Belagerung seiner Heimatstadt Sarajewo begann, befand sich der Anglist in den USA. Wegen des Krieges wurde so aus einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt überraschend ein neues Leben in Chicago. Hier schreibt Brik mittlerweile für eine amerikanische Zeitung viel gelesene – wenn auch wenig einträgliche – Kolumnen über interkulturelle Missverständnisse, während seine angloamerikanische Ehefrau als Neuorchirugin gutes Geld nach Hause bringt. Doch trotz seiner scheinbar perfekten Immigrantenbiografie (die der von Aleksander Hemon auf’s Haar ähnelt) fühlt er sich dort nicht wirklich angekommen.

Umso mehr fasziniert Brik die Biografie eines anderen Immigranten, auf die er zufällig stößt: Der junge osteuropäische Jude Lazarus Averbuch wurde 1908 im Umfeld der hysterischen Hatz auf Anarchisten vom Polizeipräsidenten Chicagos grundlos erschossen. Brik ist von den Parallelen ihrer Leben tief berührt: Schließlich sind sie beide nach Amerika aufgebrochen, um der heimischen Gewalt zu entfliehen. Und beide fanden dort statt des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten das „Land der freien Idioten und der tapferen Arschlöcher“, so Briks bittere Erkenntnis. Während sich Lazarus vor 100 Jahren mit einer Hetzjagd gegen Anarchisten konfrontiert sah, die auch vor staatlichen Morden und Schauprozessen nicht zurückschreckte, muss Brik nach den Anschlägen des 11. September mit dem so genannten Krieg gegen den Terrorismus zurechtkommen, der mit ähnlicher Hysterie alle muslimischen US-Bürger und „verdächtig“ aussehenden Migranten unter Generalverdacht stellt.

Durch das Stipendium einer reichen Charity-Lady beflügelt, ergreift Brik deshalb die Gelegenheit beim Schopf, sich für ein Buch über Lazarus auf Recherchen in dessen Heimat zu begeben. Zufällig begegnet er vorher auf einer Party seinem alten Kumpel Rora. In dem Fotografen, der schon als Jugendlicher in Sarajewo wegen seiner Coolness von allen bewundert und beneidet wurde, findet sich ein kongenialer Reisegefährte für den Trip in die Vergangenheit. Schon bald merken die beiden auf der beschwerlichen Fahrt in ihrem klapprigen „Ford Fäkal“ vom ukrainischen Lemberg bis nach Sarajevo, dass sie dabei nicht nur auf Lazarus Spuren wandeln, sondern auch zu den eigenen Wurzeln unterwegs sind – in eine Jugend, die der Krieg zerstört hat und in eine Heimat, die nach Jahren des Exils ebenso fremd ist wie das Leben in Amerika. Sarajewo, der Endpunkt ihrer Reise, wird schließlich zu einem Wendepunkt in ihrem Leben: Tunichtgut Rora holt seine kleinkriminelle Vergangenheit auf brutale Weise ein, während Brik feststellt, dass ihn innerlich weit mehr als nur ein paar tausend Kilometer von Chicago und seiner tüchtigen Ehefrau trennen.

Aleksander Hemon ist nur wenigen hierzulande ein Begriff, auch wenn bereits zwei seiner Bücher auf Deutsch vorliegen („Die Sache mit Bruno“, „Nowhere Man“). Dies dürfte sich allerdings mit „Lazarus“ schlagartig ändern, für das der Exilbosnier von der amerikanischen Kritik gefeiert und für den National Book Award nominiert wurde. „Lazarus“ ist ein fulminanter Roman, der einen historischen Kriminalfall mit autobiografischen Fakten und spritzigen Ideen zu einem genreübergreifenden Werk verbindet, in dem anglophile Sachlichkeit und opulente Fabulierkunst des Balkans auf treffliche Weise miteinander verschmelzen. Intelligent, scharfzüngig, witzig und emotionsgeladen hält Hemon einer Welt den Spiegel vor, die es nach wie vor vorzieht, gegen Andersdenke und (vermeintliche) Bedrohungen mit Gewalt, Verfolgung und Krieg vorzugehen. Unterstrichen und ergänzt wird das Wechselspiel der Erzählebenen von den Fotos des Buches, die von der „Chicago Historical Society“ und vom Fotografen Velobor Božović stammen, mit dem Hemon für das Buchprojekt in die alte Heimat gereist war. Besonders berührend sind die Fotos des ermordeten Lazarus, auf denen der Tote wie eine Großwild-Trophäe auf einem Stuhl präsentiert wird, die unwillkürlich die Erinnerung an die Bilder von amerikanischen Soldaten in triumphierenden Posen mit irakischen Gefangenen wachrufen.

Titelbild

Aleksandar Hemon: Lazarus. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Rudolf Hermstein.
Knaus Verlag, München 2009.
348 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783813503296

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch