Deutsche Tannen in der afrikanischen Steppe und ein Anarchist in den Lüften

Über Thomas von Steinaeckers Roman „Schutzgebiet“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem neuen Roman „Schutzgebiet“ hat Thomas von Steinaecker einen Abenteuerroman vorgelegt, in dem eine Handvoll absonderlicher Menschen ein irrwitziges Projekt verfolgen: die Aufforstung der afrikanischen Steppe. Angesiedelt ist die Handlung in Tola, einer fiktiven Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Der Handlungsort erklärt die Titelei des Buches, denn die deutschen Kolonien wurden offiziell als „Deutsche Schutzgebiete“ bezeichnet. Ein ‚Schutzgebiet‘ ist der Staat Tola jedoch auch für seine weißen Kolonialherren, insofern sie sich alle aus einer gescheiterten Existenz oder verpfuschten Vergangenheit auf den fremden Kontinent flüchten, in dem sie ein von den Entwicklungen in Europa abgeschnittenes, inselhaftes Dasein leben. Es klingen damit auch Aspekte der Robinsonade an, wobei das Exil der Protagonisten größtenteils freiwillig gewählt ist.

Das Personal des Romans bildet eine Handvoll skurriler Figuren, deren Ziel es ist, die kleine Festung Benesi zu einem Handelsposten mit einer groß angelegten Schonung deutscher Nadelbäume auszubauen. Neben Siedlern aus Deutschland warten sie zum Ausbau der Festung auf den bekannten Architekten Gustav Selwin, dessen Schiff jedoch in den Fluten des Ozeans untergegangen ist. Der einzig Überlebende ist Selwins junger Assistent Henry Peters, der mit dem Schiffsunglück die Gelegenheit zu einem biografischen Neuentwurf gekommen sieht. Kurzerhand gibt sich Peters als Selwin aus. In Benesi angekommen, trifft er auf Ludwig Gerber, den dicken und lebensunlustigen Verwalter der Festung, nebst seiner schönen Schwester Käthe, die diesem mit Rat und Tat zur Seite steht und in die sich Peters prompt verliebt. Des Weiteren tritt der Arzt Dr. Brückner auf, der seiner Morphiumsucht und der damit verbundenen gesellschaftlichen Ächtung zu entkommen sucht. Enttäuscht muss er allerdings erkennen, dass seine Patienten in Tola lauter Doppelgänger der eigenen Biografie sind. Zu der engeren Gemeinschaft der tonangebenden Herren der Festung gehören außerdem der Offizier Schirach, der in der Einöde der Steppe imaginäre Schlachten – den Sieg des preußischen über das amerikanische Heer – nachstellen lässt, der Gefreite Käutner sowie zwischenzeitlich der Forschungsreisende Lautenschlager, der jedoch bei einer seiner Expeditionen grausam ermordet wird.

Der Roman bewegt sich auf drei Zeitebenen: Er spielt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, meistenteils wird in der ungewöhnlichen Zeitform des Präsens erzählt. In Reflexionen werden jedoch in ganzen Kapiteln die Familiengeschichte der einzelnen Protagonisten berichtet und genauso ausführlich erzählt der Roman auch von den Träumen seines Personals und dem Bestreben, aus ihrem vormaligen Leben auszubrechen. Der Wunsch, die eigene Geschichte umzuschreiben, vereint dabei nicht nur die bunte Truppe der Protagonisten, sondern verbindet auch diesen mit dem vorigen Roman von Steinaeckers. In „Geister“ begegnet der Protagonist Jürgen der Zeichnerin Cordula, die sein Leben in ihren Comics aufgreift und umschreibt. Realität und Comicwelt vermischen sich, nichts scheint mehr unmöglich und die wöchentlich erscheinenden Comicstrips bieten eine Pluralität von Möglichkeiten, von denen Jürgen zuvor nicht einmal zu träumen wagte. Was hier das Medium, nämlich der Comic leistet, erhoffen sich die Protagonisten in „Schutzgebiet“ von dem fremden Kontinent Afrika.

Der wahnwitzige Versuch, den ausgetrockneten afrikanischen Boden mit deutschen Nadelbäumen nutzbar zu machen, weckt Assoziationen an Werner Herzogs „Fitzcarraldo“. Dort zieht der gleichnamige Protagonist ein Schiff über einen Bergkamm im Dschungel, um einen bis dato unerreichbaren Teil des Amazonas für eine Kautschukplantage zugänglich zu machen. Mit dem erwirtschafteten Geld will er eine Oper mitten in den Urwald bauen, was Fitzcarraldo den Spottnamen „Eroberer des Nutzlosen“ eingebracht hat. Die Träume des Romanpersonals in „Schutzgebiet“ sind dagegen wesentlich profaner. Sie erstreben materiellen Gewinn, gesellschaftliche Achtung oder einen Namen in der Architektur- oder Wissenschaftsgeschichte. Letztlich bleiben sie alle den Wertvorstellungen verhaftet, denen sie eigentlich zu entfliehen suchten.

Eine Ausnahme bildet der Millionär und Anarchist Jackson, der ein Luftschiff konstruiert hat, mit dem er sich frei durch die Lüfte bewegt. Mit einer kleinen Anhängerschar unterschiedlichster Nationalität verwirklicht er dort seinen Traum von einer anderen Gesellschaft. Er hebt – im wahrsten Sinne des Wortes – einfach in den Himmel ab.

Ungewöhnlich an diesem Roman ist neben den Figuren und der präsentischen Erzählform auch die Erzählperspektive. Die Geschichte wird von einem Erzähler mit wechselnder interner Fokalisierung erzählt, so dass der Leser die Geschehnisse aus sich zum Teil widersprechenden Blickwinkeln erlebt. Da die Protagonisten die meiste Zeit mit Warten verbringen, gibt es wenig Handlungsdynamik. Die Figuren unterliegen auch keiner linearen Entwicklung. Alle scheitern sie, der Roman erzählt die Geschichte von geplatzten Träumen. Der Autor greift das Erzählschema der Abenteuerliteratur auf, dekonstruiert es jedoch, indem er weder eine eindeutige Haupt- oder gar Identifikationsfigur, noch ein Happy End präsentiert. Erzählt werden verpatzte Liebesbegegnungen und verpasste Gelegenheiten zwischen Henry und Käthe. Das Verlangen nacheinander wird so lange im Denkstrom rationalisiert und zermahlen, bis es sich genauso verflüchtigt hat, wie sich die Träume der Protagonisten in Luft oder konkreter: in Rauch aufgelöst haben. Denn die von den endlich dann doch eingetroffenen Siedlern aufgebaute Stadt wird mitten in den Einweihungsfeierlichkeiten von einer Feuersbrunst niedergebrannt. Der Roman ist ein Erzählexperiment, das die Figuren immer wieder im Kampf um eine sinnvolle Existenz zeigt, Sinnhaftigkeit dabei jedoch permanent unterläuft. Thomas von Steinaecker geht es nicht um eine politisch korrekte Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte, sondern um die Wünsche und phantastischen Lebensentwürfe seines Personals. „Schutzgebiet“ ist ein eskapistischer Roman, der auch dem Leser zwischenzeitlich die Flucht aus der Realität ermöglicht und zeigt, was Literatur eben auch ist: ein Spiel mit Möglichkeiten. Das macht den Roman, der dem Leser streckenweise dieselbe Geduld wie seinen Figuren auferlegt, liebens- und lesenswert.

Titelbild

Thomas von Steinaecker: Schutzgebiet. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2009.
383 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001605

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