Offiziell im Märchenland angekommen

Benedict Wells’ „Spinner“, ein Roman über die Höhen und Tiefen einer jungen Seele in Berlin

Von Fabian ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jesper Lier ist 20 und Schriftsteller. Zumindest legt das sein 1283-seitiges Romanmanuskript mit dem Titel „Der Leidensgenosse“ nahe. Lier ist sich da sicher. Sonst aber geraten in den sieben Tagen, über die der Leser die Geschicke des jungen Helden verfolgt, so ziemlich alle Sicherheiten ins Wanken. So wie leider auch die Glaubwürdigkeit der Geschichte.

Berlin, natürlich. In der Stadt der Kreativen und Lebenskünstler schlägt sich der Held, wenn er nicht gerade an seinem opus magnum feilt, als Praktikant beim „Berliner Botendurch. Eigentlich kommt er aus München, aber da hält er es, seit sein Vater sich umgebracht hat, nicht mehr aus. Sein bester Freund Gustav ist schwul.

Zwei Ereignisse bringen die Handlung des Romans in Gang: Jesper begegnet auf dem Weg zur U-Bahn der schönen Miri, in die er sich Hals über Kopf verlieben wird. Dann beschließen Gustav und er, Jespers Schulfreund Frank aus der Tristesse einer mehrtägigen Familienfeier zu retten.

Benedict Wells lässt nun munter die Handlungsfäden wirbeln: Jesper erfährt vom Tod seines großväterlichen Mentors Bornig. Der war wiederum befreundet mit dem Chefredakteur des „Berliner Boten“, der sich anbietet, die Lektüre von Jespers Manuskript zu übernehmen. Währenddessen kommen sich Gustav und Frank zu Jespers großer Überraschung näher, und es gibt ein zufälliges Wiedersehen mit Miri, nach dem sich Jesper wie im Märchenland fühlt.

So reißbrettartig, wie sich diese Konstellation liest, wird sie auch wieder aufgelöst: Der „Leidensgenosseerhält einen gnadenlosen Verriss, Jesper sieht rot und wirft seine turtelnden Freunde erst einmal aus der Wohnung. Und die vielversprechende Liebesnacht mit Miri entpuppt sich aus deren Sicht als One-Night-Stand.

Demoralisiert und völlig am Boden zerstört ist die Hauptfigur jetzt reif für die reinigende Kraft der Erneuerung: Jesper tut das einzig Richtige, verbrennt sein Romanmanuskript, verträgt sich wieder mit seinen Freunden und darf am Ende des siebten Tages erschöpft, aber zufrieden feststellen: „Wichtig war nur, dass ich nicht mehr stillstand, dass ich mich den Dingen wieder stellte, egal was aus mir werden würde. Denn alles andere wäre falsch, denke ich, unecht, irgendwie so, wie wenn man verrauchte Luft einatmet. Man kann damit leben, aber es ist nicht das Wahre, man atmet nicht so tief ein, wie man könnte.“

Man kann es dem 25-jährigen Benedict Wells nicht ankreiden, einen Roman über die Höhen und Tiefen einer solchen jungen Seele in Berlin geschrieben zu haben. Hier spricht er über seine eigene Generation, die mit dem Begriff der „Generation Praktikum“ nicht nur in beruflicher Hinsicht treffend beschrieben ist. Wells’ Figuren haben nur vage Lebensentwürfe, sprechen oft in Filmzitaten und fühlen sich dabei alle „ein wenig einsam“. Damit trifft er den Nerv seiner Zeit. Die übertriebene Handlung mit rasanten Szenenwechseln, zwischen denen die bedauernswerte Hauptfigur atemlos durchs meist nächtliche Berlin irrt und keucht, lassen „Spinner“ dagegen artifiziell und konstruiert wirken, sodass auch die feierliche Erkenntnis des letzten Kapitels wie das Lippenbekenntnis aus dem Mund einer geschundenen Marionette klingt.

Titelbild

Benedict Wells: Spinner. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
309 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067170

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