„Ich bin neu in der Frankfurter Schule“

Ein Sammelband feiert 30 Jahre Titanic und schafft Orientierung

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Diesen Merkvers von Fritz Weigle alias F. W. Bernstein, Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“, dürfte jeder schon einmal gehört haben. Die erste Hälfte davon kennt man auch als Titel von Oliver Maria Schmitts Monografie über die Autorengruppe, die unter diesem sperrigen Namen beziehungsweise dem Kürzel NFS firmierte. Das mit Abstand berühmteste Kind der Gruppe ist die 1979 gegründete „Titanic“, heute die einzige nennenswerte Satirezeitschrift mit bundesweiter Verbreitung. Auch wenn die Auflage, wie allgemein bekannt, seit längerer Zeit im Sinkflug begriffen ist. Das Vorgängerblatt „Pardon“ ging Anfang der 1980er-Jahre ein, ebenso wie ein neuerlicher Relaunch; der „Eulenspiegel“, das ehemalige DDR-Satireblatt, existiert weiter, hat aber im Westen nie richtig Fuß fassen können; „Kowalski“, eine Gründung ehemaliger „Titanic“-Mitarbeiter, ist bereits 1993 in die ewigen Jagdgründe eingegangen.

Die Impulse, die von der „Titanic“ ausgehen, reichen weit über die eigentliche Leserschaft hinaus. Sie hat den Spitznamen „Birne“ für Helmut Kohl geprägt, und den Mauerfall mit der legendär gewordenen „Zonen-Gabi“ und ihrer „ersten Banane“ (einer geschälten Gurke) gefeiert. So provokativ dies war, das Bild ist immer noch in den Köpfen – auf der Ausgabe vom November 2009 prangt der neue Außenminister „Zonen-Guido (ohne Banane)“, den Kopf auf „Zonen-Gabis“ Körper montiert.

Immer wieder hat die Zeitschrift spektakuläre Aktionen inszeniert: mal sammelte sie Unterschriften für die Freilassung von Rudi Dutschke; mal schmuggelte sie einen Kandidaten zu „Wetten, dass…?“, der behauptete, die Farbe von Buntstiften am Geschmack erkennen zu können; mal versetzte sie die CDU mit angeblichen Schwarzgeldkonten in der Schweiz in Panik, die es gar nicht gab. Mit der 2005 gegründeten PARTEI zieht sie den Politikbetrieb durch den Kakao, und schafft es, mit offenkundig unsinnigen Parolen sogar SPD- und FDP-Wahlkampfstände zu fälschen, ohne dass die Wähler dies überhaupt bemerken. Der wohl spektakulärste Coup gelang im Jahr 2000, als die Redaktion bei einer FIFA-Konferenz dem neuseeländischen Komitee-Mitglied Charles Dempsey ein hanebüchenes Bestechungsfax zukommen ließen, worauf dieser entnervt abreiste. Dadurch fehlte eine einzige, aber entscheidende Stimme für Südafrika als Veranstaltungsland der WM 2006, und die Ausrichtung ging bekanntlich nach Deutschland. Ohne Titanic also kein „Sommermärchen“! Man könnte solche Aktionen als reine Werbeveranstaltungen des Blattes abtun, aber dies wäre ein Fehler. In den meisten Fällen zeigen die Redakteure gekonnt auf, dass der Gesellschaft die Bornierten, Gutgläubigen und Fanatiker wohl nie ausgehen werden.

Schön also, dass es die „Titanic“ gibt, und dass sie ihren Geburtstag mit einem opulenten Jubiläumsband feiern kann. Warum ihn aber an einem Ort besprechen, der sich vorwiegend der Kritik literarischer und literaturwissenschaftlicher Texte widmet? Weil von der „Titanic“ immer wieder wichtige Impulse auf die Gegenwartsliteratur ausgegangen sind, weil sie ein Labor ist und bleibt, in dem Autoren der Hochkomik sich ausprobieren und entwickeln können. Mitbegründer Robert Gernhardt (1937-2006) ist längst kanonisiert und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach posthum mit einer Ausstellung seiner Arbeitshefte geehrt worden. Sein Kollege Eckhard Henscheid (geboren 1941) hat immerhin den germanistischen Ritterschlag eines eigenen Text + Kritik-Bandes erhalten. In der „Titanic“ schrieben der Romancier Gerhard Henschel und der ganz junge Dietmar Dath. Max Goldt entwickelte hier sein populäres Kolumnenformat, anfangs unter dem staubigen Namen „Aus Onkel Max’ Kulturtagebuch“ (wie viel schöner war das zeitweilige „Diese Kolumne hat vorübergehend keinen Namen“). Kurzzeitig polemisierte hier auch Wiglaf Droste, wenn er nicht in der Frankfurter Fußgängerzone Marcel Reich-Ranicki imitierte und auf Zuruf lispelnd Rezensionen von sich gab. Unsere Literatur wäre also deutlich ärmer ohne die „Titanic“. Für die Hauszeichner der Zeitschrift stimmt das ohnehin: Hans Traxler (geboren 1929) und der verstorbene F. K. Waechter (1937-2005) gelten als Großmeister ihres Fachs, während jüngere Künstler wie Bernd Pfarr, Ernst Kahl, Walter Moers, Eugen Egner, und die Duos Rattelschneck und Katz & Goldt „Titanic“ als Sprungbrett nutzen konnten, um in größeren Blättern zu veröffentlichen.

Wer will, kann diese 30 Jahre nun also in einem schön ausgestatteten Coffee Table- oder doch eher Im-Bett-Lese-Book Revue passieren lassen. Das meiste hat die Zeit unbeschadet überstanden, lediglich bei einigen Witzen fragt man sich, ob sie ohne den zeitgeschichtlichen Kontext noch zu verstehen sind. Wie lustig wirken etwa die zahlreichen Helmut Kohl-Witze auf Leser, die nur noch den „Kanzler der Einheit“ aus dem Geschichtsbuch kennen, nicht aber die kleinen Skandale und großen Peinlichkeiten seiner Regierungszeit? Aus diesem Grund fehlen wohl auch die meisterhaften Essays des ehemaligen Suhrkamp-Lektors Walter Boehlich, die er bis 2001 zu tagespolitischen Themen schrieb. Wer will, kann außerdem beklagen, dass früher alles viel besser war, und neben der Auflage nun auch die Qualität im Sinken… das aber ist nicht wahr! Die „Titanic“ ist und bleibt die komischste Zeitschrift des Landes. Und müsste man das folgende Sprichwort nicht erfinden, dann spräche der Volksmund: „Die schärfsten Kritiker der Erben / werden einmal selber sterben.“

Titelbild

Peter Knorr / Oliver Maria Schmitt / Martin Sonneborn / Hans Zippert / Mark-Stefan Tietze (Hg.): Titanic - das endgültige Satirebuch. Das Erstbeste aus 30 Jahren.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2009.
414 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783871346521

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