Keiner ist der, der er zu sein vorgibt

Der Auftakt zu David Peaces Tokio-Trilogie ist erschienen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Auftritt des englischen Krimiautors David Peace in der europäischen und dann auch deutschen Krimiszene war fulminant. Die vier Bände seines „Red Riding Quartet“ über den Yorkshire-Serienkiller, die unter den Jahrestiteln „1974“, „1977“, „1980“ und „1983“ erschienen sind, tauchen ab in einen beinahe obszön zu nennenden humanen Unterbau, in dem Gewalt, Moral und Vernunft unversöhnlich einander gegenüber stehen. Nun beginnt sein nächster Zyklus, diesmal in drei Bänden. Diesmal ist er in Tokio angesiedelt und der erste Teil trägt den Titel „Tokio im Jahr Null“.

Peace, der fünfzehn Jahre in Japan lebte, verlegt damit den Handlungsort auf die andere Seite der Erde, was durch den gehörigen Einsatz von asiatisch wirkenden Ausstattungselementen gesichert wird. Sein Thema und seine erzählenden Mittel jedoch lässt Peace weitgehend unverändert. Es sind wieder Serienmorde, denen junge Frauen zum Opfer fallen, und Peace erzählt seine Geschichte auch dieses Mal in jenem atemlosen Tempo, das auch schon seine ersten vier Romane gekennzeichnet hat.

Ausgangspunkt von Peaces Roman ist die Kapitulation Japans am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die stolze japanische Nation, die von der Behauptung ihrer Überlegenheit kaum weniger gelebt hat als der deutsche Nationalsozialismus vom angeblichen Vorrang der „arischen Rasse“, muss sich beugen. Dass sie zugleich im Inneren von einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Intrigen geprägt ist, lässt sich als Subtext von Peaces Roman verstehen.

Hinzu kommen die Verfallserscheinungen einer Zivilisation, die auf ihre Reinlichkeit und Wohlerzogenheit besonderen Wert gelegt hatte. Eine der beständigen Plagen, unter denen Peaces Figuren zu leiden haben, sind die Kopfläuse, die das Chaos der Niederlage genutzt zu haben scheinen, um sich auf den Häuptern, in den Haaren und Kleidern der Besiegten breit zu machen.

Inspektor Minami wird mit einem Kollegen in der Schlussphase des Weltkriegs zur Aufklärung eines Mordfalls abgeordnet, der – kaum ist er an Ort und Stelle – von der Militärpolizei übernommen und einem allzu raschen Ende geführt wird. Eine junge Frau wird ermordet aufgefunden, die Militärpolizei unter Führung eines Hauptmann Muto lässt das Gelände um den Tatort durchsuchen. Der alte Koreaner, der dabei gefunden wird, wird von den Militärpolizisten ohne großes Verfahren abgeurteilt und erschlagen.

Damit beginnt die Nachkriegszeit. Dass Hauptmann Muto arg voreilig gehandelt hat, wird klar, als in den Wirren der Nachkriegs- und Anfangszeit zwei Frauenleichen auf einem brachliegenden Grundstück gefunden werden. Wieder junge Frauen, die verschwunden sind und schließlich tot aufgefunden werden. Verschwunden im Nachkriegschaos und darin auch umgekommen. Minami macht sich auf die Suche nach dem wahren Mörder, muss dabei aber auf die internen Machtspiele der Kriminalpolizei Rücksicht nehmen. Minami wird als Leiter einer Ermittlungstruppe entmachtet und in die Provinz geschickt, um für einige Zeit aus der Schussbahn zu kommen.

Aber es sind nicht nur die internen Ermittlungen, die Minami Sorgen machen, auch seine direkten Kollegen intrigieren gegen ihn. Sein Konkurrent Adachi drängt ihn beiseite. Sogar ein Mordanschlag wird auf Minami verübt. Nicht zuletzt die Querelen des Nachkriegschaos, in denen Behörden und Kriminelle Bündnisse eingehen, um zumindest ein Mindestmaß an Ordnung aufrecht erhalten zu können, hindern ihn. Aber ohne Ordnung kein Geschäft. Auch Minami macht seinen Privatdeal, gerät dadurch aber ins Visier der Säuberungs- und Umbaukampagnen der Besatzer, der sich die japanischen Beamten mit allem Geschick zu entziehen suchen, soweit sie können.

So ist auch Minami kein ,sauberer‘ Held. Ganz im Gegenteil, er hat eine Frau, zwei Kinder und eine Geliebte. Und er hat offensichtlich etwas zu verbergen. Wenigstens ist das anzunehmen, denn er macht sich nicht nur mit aller Macht auf die Suche nach dem Mörder der jungen Frauen. Er trägt zugleich wie ein Mantra den Satz mit sich herum, dass niemand der sei, der er vorgebe zu sein.

Das wird zwar im Roman nicht aufgelöst oder ist anscheinend einer generellen Verunsicherungsstrategie zu verdanken, die Peace in seinen bisherigen Texten auch schon verfolgt hat.

Am Ende wird denn auch in der Tat ein Mörder gefunden, und wenn man Peaces Basisprinzip nicht falsch versteht, bleibt dabei immer ein Rest von Unsicherheit, ob hinter dem Ganzen nicht vielleicht doch verdecktes Höheres als Ursache steckt. Zumal er an den Schluss seines Textes, in eine Reflexionsseite eines ungenannten Instanz dem Satz einstreut: „Der Tod ist ein Mann.“ Wenigstens für das Serienkiller-Genre ist das zu bestätigen.

Titelbild

David Peace: Tokio im Jahr Null. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2009.
408 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783935890656

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