Auf der Schwelle

Ulisse Dogà lässt Paul Celan in „Port Bou – deutsch?“ Walter Benjamin verstehen

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt eine Geisteslandschaft, in der Sprache auf sich selbst blickt, ihre Möglichkeiten und Fallen, Brüche und Gewohnheiten. Exponenten dieser Geisteslandschaft verbinden sich durch poetischen Funkverkehr von Leuchttürmen aus: Walter Benjamin und Paul Celan suchten im methodischen Hermetismus (der durchaus zu lesen war) das Geheimnis der Sprache, um es anzudeuten im poetischen Bild. Das Gedicht, um das es geht, Celans „Port Bou – deutsch?“, benennt den Ort, an dem sich Walter Benjamin in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940, nach zwei Wochen Flucht vor der Gestapo, das Leben nahm.

Die spanische Stadt an der französischen Pyrenäengrenze ist der Schwellenort, an dem die Zeichen zu schweigen beginnen. Die Initiation künftiger Hermetik – als permanente Schwelle – durch ein lebensgeschichtliches Ereignis, das Lebensgeschichte zu Todesgeschichte macht, verbindet in ihrer Unabweisbarkeit Celan und Benjamin in einer „geheimen Verabredung“.

Das Gedicht lautet: „Port Bou – deutsch? // Pfeil die Tarnkappe weg, den / Stahlhelm. // Links- / nibelungen, Rechts- / nibelungen: / gereinigt,gereinigt, / Abraum. // Benjamin / neint euch, für immer, / er jasagt. // Solcherlei Ewe, auch / als B-Bauhaus: / nein. // Kein Zu-spät, / ein geheimes / Offen. / (Paris, 19. 07 1968)“

Die geheime Verabredung bedient sich öffentlicher Zeichen. Ihre Hintergründe werden von Ulisse Dogà in einer weiten Deutungsbewegung ausgeleuchtet, die sowohl typische Referenzpunkte der das Gedicht prägenden Semantik (George-Kreis, Martin Heidegger, Ernst Jünger, Ossip Mandelstam) aufnimmt als auch Benjamins Schriften heranzieht. In sechs Kapiteln, die der Einteilung des Gedichts folgen, gibt dieses selbst den Wegweiser für die Deutung ab. Der interpretierende Zugriff wird durch die Chronologie des Textes bestimmt. „Port Bou – deutsch?“ strukturiert das Nichtstrukturierbare, es ist eine Leidensanordnung, die sagt, was nicht genannt werden durfte, es in Linien kondensiert, die von Dogà wieder entfaltet und ausgebreitet werden in Bezug auf die Kontexte, denen die Kondensate ihre Aura verdanken.

Celans Gedicht überblendet dabei Leidenszusammenhänge; der Tod Benjamins an der Grenze, die Mutter des Dichters, die auch nur ein Grab (in den Lüften) hat, der Dichter Celan, distanziert von einer grob-technizistisch argumentierenden Gruppe 47, deren Verständigungsriten man allzu gut versteht. Diese gehen auf Identität in der Kahlschlag-Tendenz, der „Stunde Null“, die sie neu hervorbringt und ihre Gruppensprache als Sprechen über modische Themen (Engagement versus poésie pure) konstituiert.

Das andere Sprechen aus dem Leid bleibt hier fremd; es ist die Fremdheit Ignaz Bubis’ vor Martin Walser (wer entschuldigt sich bei wem und wie viel wiegt das Leiden, da es offensichtlich gemessen wird), die umgekehrte Welt, die das Opfer zur Sühne auffordert, bis es sich selbst verschwinden macht. (So geht es denen, die von der Mehrheit als Minderheiten betrachtet werden.) Links- wie Rechtsnibelungen bleiben ihren Verhältnis- und Selbsterklärungsformeln treu. Die Treue der linken Seite reicht, worauf Dogà hinweist, bis zu Bertolt Brechts irregeleitetem Versuch, aus Franz Kafkas Texten „praktikable Vorschläge“ zu extrahieren. Das Dunkel Kafkas, das für Brecht bekanntermaßen dazu angetan ist, einem ,jüdischen Faschismus‘ Vorschub zu leisten, wird gefasst als eines der Passivität; der dunkle Sinn ruht, arbeitet nicht, greift nicht in Funktionszusammenhänge ein.

Dass hierin seine Widerständigkeit liegt, fällt heute besonders auf. Wenn Brecht also sagt, was er sieht, was ist und was er weiß, so weiß er nur um das, was sich funktional vom „romantischen Glotzen“ trennt, sich von der Versenkung in die Konkretion entfernt oder diese nur zu künftigem guten Zweck zulässt. Das Missverständnis des Dunklen als Passivum legt den Schatten als Weltverdunklung nahe – eben das ist er bei Celan gerade nicht, auch hierauf weist Dogà hin – sondern ist das, was der Rede Sinn gibt. Schatten differenziert gerade den planen Einheitssinn der hellen Bedeutung, die glatt in ihrem Kontext aufgeht (etwa in Celans poetologischem Gedicht „Sprich auch du“).

„Aber wie auch in Celans bekanntem Gedicht ,Sprich auch du‘ klar wird, muss diese Widerrede nach 1945, also nach der Kapitulation bzw. Verschattung der utopisch-marxistischen und messianischen Hoffnungen, die Benjamins und Brechts Texte noch schüren, hermetisch werden; auf die Dichtung selbst sind Schatten gefallen“, schreibt Dogà. Die Gewordenheit der Haltung, die „sieht, was ist“ wird nicht beachtet, nicht Pierre Bourdieus Inkorporierungen im Feldgefüge sind hier gemeint, sondern grundsätzliche Unvereinbarkeiten von Denkstilen, von denen einer sagen kann, was er sieht und Carola Neher Dinge „beibringt“, jenseits des Guten (!) Alten, einer sich aber zu den Antipoden begibt und in der Fremdheit von der Fremde spricht: Der Engel der Geschichte blickt zurück und sieht, wie sich Trümmer auf Trümmer türmen in einer einzigen Katastrophe; es sind solche Engel- und Katastrophenblicke, die dem Leser keine Geschenke bringen, und das Glück des Benjamin-Lesers ist stets ein gebrochenes. Zwischen Nein und Ja („Benjamin / neint euch, für immer / er jasagt“) ist der Raum des Zweifels aufgespannt, in dem der „Spruch“ den „Schatten“ bekommt, ohne den es keine Bedeutung gibt.

Benjamin erscheint als Archetyp, der eine „antinomische Praxis“ vertritt, Werte in die Tat umsetzt und sie zugleich an Unzeitlichkeit bindet. So ist das Gedicht innerhalb zeitlicher Phänomene situiert, die seinen Charakter bedingen; es „fand in keinem für eine Veröffentlichung vorgesehenen Band Platz“, dem legitimen Sprechen nicht nah, in seiner Kritik so verhalten wie deutlich. Ja und Nein sind die Optionen der reinen Dezision. Benjamins Ja ist ein Nein gegen die Agenten seines Vergessens, die ihn aus den Kontexten dekontextualisieren wollten, in die Dogà ihn sorgfältig wieder einbettet. Höhepunkt des Gedichts ist die Strophe, in der Zeitlichkeit als Dauerhaftigkeit bestimmt ist („neint euch, für immer“), der Dialog im Sinne eines Bejahens der Gegenüber aufgeschoben ist und nicht Wirklichkeit werden wird.

In der Heimkehrersituation, die keine Heimat mehr antrifft, verdeutlichen sich Exodus und Entzweiung; noch Wolfgang Borcherts Beckmann-Figur kennt eine zerbrochene Heimat, die in der Vorstellung an eine Ganzheit anschließbar ist. Dogà bezieht sich kritisch auf Novalis: Die Frage „Wo gehen wir denn hin?“ und die Antwort „Immer nach Hause“ aus Novalis’ im Mittelalter spielenden Roman „Heinrich von Ofterdingen“ versprechen dem nichts mehr, der die Gründe einer Kultur nicht teilen kann, die ihn nur als Mittel zulässt und seinen Platz beschränkt. Dennoch könnte das Heimgehen ein Ende vor dem Ende sein, wie es im Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern heißt, dass sie im schönsten Glanze der Weihnacht und der Kälte selig zur Großmutter heimgegangen war.

Der Tod als Heimat der Heimatlosen kontrastiert mit dem „bürgerlichen deutschen Geist, der traditionell dazu neigt, das Leben innerhalb eines bestimmten Mikrokosmos zu organisieren […], dessen Grenzen alle gesellschaftlichen Beziehungen der Gemeinschaft bestimmen…“.

Der extrem vertiefte Mikrokosmos (Thomas Manns Lübeck) ersetzte die Breite historischer Erfahrung; diese hätte im besten Fall das Andere als gleich vorgestellt und Vorurteilsstrukturen mit Eingriffspunkten versehen. Georg Heyms „Gott der Stadt“ dagegen vereinheitlicht diese als Moloch im „Korybanten-Tanz“; die Musik der Städte besagt nicht die Vertiefung in den norddeutschen Schutzraum, sondern, auch postexpressionistisch, das Aufgehen des einzelnen in der Masse sich kreuzender Zuschreibungen auf Orte und Plätze, Vergnügungen die zu Pflichten werden.

Die Heimkehrer haben keine Zukunft mehr. Wenn sie weiterleben, ist die Erfahrung „im Kurse gefallen“, steht die Generation, die die Pferdebahn kannte, „unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken.“ So Benjamin. In Verhältnissen der bedrohlichen Gleichförmigkeit der Lebensentwürfe an jeweils passenden Orten bleibt den Ausgestoßenen die Färbung des Himmels. Die Gespenster kommen nicht heim.

Ab 1933 gibt es „keine Metaphorik“ mehr, die Benjamins Verlangen nach Ausdruck vermittelte; die Vorstellung der Ferne wird nicht nur lebensbestimmend, es verbietet sich vielmehr ihre Einrückung in eine räumliche Relation: derjenige, der in ein sehr fernes Land auswandern wollte, fragte, als seine Freunde in Paris sich darüber verwunderten, „Weit von wo?“ (Peter Szondi) Der Maßstab, das definierende Zentrum der Bewegungen, fehlt. Aus Benjamins nachdrücklich verorteter Berliner Kindheit war ein Niemandsland und Niemandsraum geworden, „ist alles fremd, so gibt es auch jene Spannung von Ferne und Nähe nicht, aus der Benjamins Städtebilder leben.“ (Szondi)

Ohne diese Spannung leben sie nicht mehr, sondern lassen den Blick in die Wolken richten. Die Gespensterfamilien der Unrechtszeit sind die Gelehrten, deren Sujets im Schwinden begriffen sind, deren Erfahrungsräume sich auf Fluchtbewegungen zusammenziehen. Erinnerungen als Zukunftszeit aber – ihre Vergangenheit dürfe uns nicht halten – beschwören bei Benjamin in der „Arche“ der Briefsammlung „Deutsche Menschen“ ein anderes Deutschland in einer Ferne, die zum Argument gegen die falsche Gegenwart werden sollte. Die „geheime Verabredung“ unter den Geschlechtern erhält sich über die Zeit, aber in dieser Erhebung liegt die Gefahr der Stilisierung eines Unterschiedes zum Kriterium: Das „Dann sind wir auf der Erde erwartet worden“ („Über den Begriff der Geschichte II“) macht aus dieser Erwartung eine „schwache messianische Kraft […], an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“

Messianismus ist der Prüfstein des historischen Materialisten. Die Vergangenheit als aufblitzendes Bild („Über den Begriff der Geschichte V“) steht in ihrer raren Punktualität allein, meint aber die Gegenwart. Wie in der Dichtung Celans „der Konditional […] abwesend“ ist, wird diese Gegenwart – ametaphorisch bei aller stilistischen Kunst – zum Ausweis des Nein vor dem Ja, der Kritik vor der Bejahung, dem Sagen, was ist mit umgekehrten Vorzeichen. Nicht nur jenen der Kritik an den Umständen, die, wenn sie A sagt, noch lange nicht B sagen muss, sondern erkennen kann, dass A falsch war (Brecht).

Vielmehr erhält die Bejahung, die Celans Nennung des Wortes „Benjamin“ im Gedicht „Port Bou – deutsch?“ bedeutet, einen Zug ins Paradoxale: Benjamins Bejahung dauert an, solange das Verneinen sich nicht erschöpft. Ja und Nein sind nicht nur Bedingungen des „Spruchs“, des poetischen Textes, den sie im „Schatten“ mit Differenzqualität ausstatten und so beglaubigen. Die Ausdrücke sind Pole einer geistigen Auseinandersetzung um Legitimität und Deutungshoheit, die sich in keiner Zuschreibung je erschöpft, sondern die Zuschreibungspraxen aufrechterhält in poetischer Sprache wie deren politischem Echo durch bloße Beckettsche Fortdauer des Diskurses: „The seim anew“.

Die vierte Strophe des Gedichts „Solcherlei Ewe, auch/als B-Bauhaus:/nein“ bringt Negation und Affirmation in Verbindung mit den vergangenen Geschlechtern. Dogà: „Das altdeutsche Wort ,Ewe‘ steht für Epoche, Zeitalter, und war – wie ‚Rune‘, ‚Deute‘, ‚Blut‘, ‚Geschick‘ – ein gebräuchliches Wort im George-Kreis. Das Wort bezeichnet nicht eine bestimmte historische Periode, sondern eine geistige Epoche von Genien und Heroen.“

Genien und Heroen stützen Kreise als Kriterien aus der Vergangenheit, die Interaktionsformen und ihre kalkulierte Übertretung kohäsiv wirksam werden lassen. Der Gruppenzusammenhalt brauchte seine Spiegel (Max Kommerells „Heilgeschichte des Deutschen“ (Benjamin) über die klassischen Dichter fehle gerade die Beschattung). Ja ohne Nein. Die „Ewe“ ist die Epoche, die für ihre Nachfahren im emphatischen Sinne verpflichtend wird (verpflichtet, es den Genien und Heroen gleichzutun), woraus sich Übersteigerungen ergeben: der vorgestellten Wirksamkeit des eigenen Tuns und der Möglichkeit, in den Überlieferungszusammenhang wie in ein Bekanntes einzutreten. Ein Gedicht Stefan Georges im „Stern des Bundes“ (1914) nennt das Wort als Beleg linearen Einrückungsgeschehens: „Ich komme nicht ein neues Einmal künden: / aus einer ewe pfeilgeradem willen / Führ ich zum reigen reiss ich den ring.“ Das Nein bezieht sich bei George auf das „neue Einmal“; dem entgegengesetzt ist der der Ewe zugehörende „pfeilgerade Willen“. Das Hineinreißen in den Ring besitzt jene Gewalttätigkeit und Unerbittlichkeit, die dem schattenlosen Sprechen eigen sind, in dem das Nein nur eine umso stärkere Eindeutigkeit nahelegt. Gundolfs bunte Reihe („Goethe, Hölderlin, Napoleon, Nietzsche, George“) exponiert „Gesamtmenschen“, die dem schlechten Partikularen nicht genügen.

Wieviel Ausblendung gleicher Talentlagen in dieser Reihe steckt und wie wenig Hölderlin mit Goethe gemein hat, braucht hier nicht betont zu werden. Es ist eine Idealisierung auf Anschluss des „Meisters“ hin. „Meister“ haben es an sich, das, was vor ihnen war, zu vereinheitlichen und als differenzloses Vorher erscheinen zu lassen. So treffen sich in der Perspektive von „Port Bou – deutsch?“ die Verzerrungen der Zeiten. Celan setzte sich von „solcherlei Ewe“, solcher gewesener Epoche als einer von heute aus unbefragten Größe ab. Nicht zuletzt enthält das von Dogà untersuchte Gedicht die Frage nach der Übertragbarkeit eines Todes- und Schwellenortes nach „Deutschland“, also in die Imagination einer Nationalität hinein, die der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte in der Gegenwart.

Dies geschieht nicht und es geht nicht um das Gespenst der Hoffnung: Czernowitz, die Stadt Celans im alten Habsburgreich in der „Menschen und Bücher lebten“, verschwand, es blieb nur, welches „nur“, die Sprache. Claudio Magris nannte sein 1971 erschienenes Buch über Joseph Roth „Lontano da dove“. In diesem „Weit von Wo“ scheint die ganze Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit räumlicher Verortungen auf, sofern sie Dauer verbürgen sollen, wieder ist es die Frage des Juden im Milieu der Emigranten, auf welchen Ort, sich das Wort „weit“ denn bedeutungskonstituierend beziehen solle. Der Verlust des Zentrums von Denkbewegungen bestimmt den Autor im umfassenden Sinne als Flüchtling: nicht nur bezogen auf räumliche Distanzen, sondern auf dessen geistige Produktion.

Das heimatlose Denken aber kann die „Ewe“ nicht brauchen, ist Teil einer Epoche nur aus dem sehr fernen Rückblick, der den Gegenwärtigen konstitutiv unzugänglich ist. Wieder: weit von wo. Das Wort „B-Bauhaus“ aus demselben Abschnitt des betrachteten Gedichts Celans addiert Referenz und lässt Dogà einen sehr guten Rückblick auf die wechselvolle Tradition einer Architektur geben, die zwischen „dem utopischen Klima der zehner Jahre“ (Benjamin liebte die „Glasarchitektur, entsprungen den utopischen Träumen Paul Scheerbarts“) und der historisierenden Kanonisierung des Ausdrucksstiles in den 1960er-Jahren changiert.

In Celans Gedicht „stottert“ das „B-Bauhaus“ (eine Lesart, der Dogà nichts abgewinnen kann). Es ist auch die Wiederholung eines Buchstabens als Sinn-Aufschub, da es mitunter der schlechte Sinn war, der sich den Zeitläuften allzu glatt adaptierte. Auch die Epoche des Bauhauses versöhnt bei aller Modernität nicht, modernité und was ihr folgte ist Todeszeit des Wortes „Epoche“ selbst. „Solcherlei Ewe, auch / als B-Bauhaus / nein.“ Dieses Nein leitet über zur letzten Strophe des Gedichts, „Kein Zu-spät, / ein geheimes / Offen.“ Dieses „Offen“ ist nicht das „Offene“ Rilkes, über das Heidegger in „Wozu Dichter?“ (1946) sagte: „‚Offen‘ bedeutet in Rilkes Sprache dasjenige, was nicht sperrt. Es sperrt nicht, weil es nicht beschränkt. Es beschränkt nicht, weil es in sich aller Schranken ledig ist. Das Offene ist das große Ganze alles dessen, was entschränkt ist.“

Dieses Offen gibt es für Celan – als Entschränkung – nicht. Vielmehr erscheint das „Offen“ im Gefolge eines von Dogà eindrücklich nachgezeichneten gemeinsamen Selbstmords zweier Freunde. Jenseits vergangener „Ewe“, die gerade nicht auf ein Heute abstrahlt, war das Leben in Berlin (Benjamins Jugend) eine Epoche, „die wir […] glaubten unberührt lassen zu können, […], um nur den Worten Hölderlins und Georges in ihr ihren Platz zu geben.“

Doch diese Versenkung in die poetischen Worte, die vor der Wirklichkeit retteten, wurde durchschnitten vom selbst gewählten Tod Fritz Heinles und Rika Seligsons im August 1914 in einer kleinen Wohnung im Tiergartenviertel, die einer Zahl von Freunden als Treffpunkt diente. Das „Zu-spät“ hat sich in der privaten Sphäre dem Jugenderleben eingeprägt; die Freunde kommen nicht zurück und die Weltgeschichte tut ein Übriges. Die Epoche, die Benjamin und seine Freunde „glaubten unberührt lassen zu können“, berührte sie selbst, berührte sie mit ihren Toden. Der Tod der Freunde wurde zur Denkzäsur. Das Zu-spät schien, wie Dogà herausarbeitet, über der Zeit zu liegen, in der die Jugend etwas werden wollte.

Gegen Gustav Wyneken, der in „Der Krieg und die Jugend“ (1915) für Benjamin diese Jugend dem Staat opferte und die bindende Kraft der Idee nicht sah: „Die Jugend aber gehört nur den Schauenden, die sie lieben, und in ihr die Idee über alles.“ (Benjamin) Die Idee der Jugend vermochte gegenüber dem aus der „Ewe“ heraufdämmernden Zeitbegriff einer Kreise und Gruppen favorisierenden Gemeinschaftlickeit ihre eigene Heroik (die einer Ferne) nicht zu bewahren.

Die Jugend als Zeit, in der Vergangenheit und Zukunft in einem Höhepunkt des Selbstbewusstseins gleich einsehbar scheinen, hat ihr Versprechen nicht halten können. Das große „Zu-spät auf Kommerells Mahnmal deutscher Zukunft“ holt die Protagonisten einer „Jugendrevolution des Geistes“ militärisch-politisch ein. Bei Celan gibt es kein „Zu-spät“. Sein Gedicht „Port Bou – deutsch?“ lässt den Schwellenort bestimmend werden für die geistige Prägung einer Generation. Benjamin schreibt über Kommerells letztes Kapitel über Hölderlin: „Ein Hölderlin-Kapitel beschließt diese Heilgeschichte des Deutschen. Das Bild des Mannes, das darin entrollt wird, ist Bruchstück einer neuen vita sanctorum und von keiner Geschichte mehr assimilierbar. […] Über Nacht werden Geisterhände ein großes „Zu-spät“ draufmalen.“

Diese Geisterhände in eine andere Richtung zu lenken, vermag das „geheime Offen“. Es ist geheim, denn die Öffentlichkeit passt es ihren kontaminierten Denkstilen und Deutungen an in der Produktion einer „Heilsgeschichte“. Die sentimentalische Erfahrung der Kunst, die die Jugend um den Autor der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ zu sich kommen ließ, bildet, wie Dogà richtig feststellt, „ein melancholisches Gegengewicht zum politisch-linksradikalen Benjamin“.

Beide Gefühlslagen sind zu verbinden. Melancholisch geht der Weg der Dichtung in die Immaterialität (etwa in Celans Meridian-Rede), gegen die „Tarnkappe“ und den „Stahlhelm“, die in Benjamins Kommerell-Rezension ein „geheimes Deutschland“ nurmehr in seiner Arsenal-Qualität für ein offizielles beschreiben und in der ersten Strophe von „Port Bou – deutsch?“ als negativ perspektivierende Indizes genannt sind. Offenheit ist, wie man schließen kann, Offenheit für Kritik nach dem Zu-spät, das durch diese verneint wird. Dogà breitet seine Überlegungen in einer dem Gegenstand angemessenen, zeitweilig sympathetischen Sprache aus. Sein Gegenstand ist bei ihm in guten Händen und wird durch ein engmaschiges Netz intertextueller Bezüge gehalten. Celans Gedicht, das dem Band den Titel gab, erweist sich als Zentrum weit in die Geschichte weisender Bedeutungen, das die bloße Deutungsarbeit (als hermeneutische Tugend) an ein Heute bindet. Die Schwelle ist Sprache geworden: „Port Bou gehört ab diesem Moment zum Meridian von Celans Dichtung: eine imaginäre Achse, auf der die Geschichte, die Geo-Graphie geworden ist, sich in poetische Sprache verwandelt, in welcher die Konflikte der Geschichte wieder lesbar werden.“

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Ulisse Doga: "Port Bou - deutsch?". Paul Celan liest Walter Benjamin.
Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 2009.
152 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783890865195

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