Das Fieber als Fluchtmittel

Juan José Millás schreibt in „Meine Straße war die Welt“ über seine Kindheit in der Kälte Madrids

Von Nina FinkernagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Finkernagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Juanjo, der Junge aus dem Roman „Meine Straße war die Welt“, führt ein Leben zwischen zwei Bewusstseinszuständen. Ätherschnüffelnd entflieht er der Wirklichkeit, Tagträume entheben ihn dem realen Schulalltag und lassen ihn unermüdlich neue Handlungsstränge entwerfen: „Geschichten erfinden wurde zu einer Krankheit.“ Juanjo kultiviert den Rauschzustand, der es ihm ermöglicht, seiner Familie und seinem Wohnviertel zu entkommen.

Um dieses Dasein im Schwellenbereich kreist der gesamte Roman. Der Junge entwickelt eine poetische Sicht auf die Straße – und auch hier ist die Motivation stets, „diesem höllischen Zustand, diesem schmutzigen Viertel, dieser feuchten Straße“ zu entfliehen. Die Straße ist für ihn eine Metapher der Welt. Genauso wie es für den erwachsenen Ich-Erzähler die Psychoanalyse, das Lesen und das Schreiben sein können.

Der autobiografische Roman von Juan José Millás begleitet den jungen Protagonisten auf dieser beständigen Gradwanderung durchs Leben. Das Gefühl, nicht in der Realität verankert zu sein, setzt sich in Juanjos Selbstbild fort: „Ich war keiner von ihnen“, schreibt er über seine Familie. Mit acht Geschwistern lebt er in Madrid, die Mutter ist in hohem Maß labil, Armut prägt das Familienleben.

Die Kälte im Haus spielt eine allgegenwärtige Rolle. Millás beschreibt sie im ersten Teil des Buches so anschaulich, dass sie für den Leser beinahe genauso intensiv nachzuempfinden ist wie für Juanjo. Der Autor verlässt dabei wie so oft die rein kindliche Perspektive und blickt in der Rückschau durch die Augen des Erwachsenen.

Der größte Teil des Buches spielt während seiner Kindheit, doch einige Handlungsstränge bringt Millás zum Abschluss, indem er sie bis in seine Zeit als Erwachsener weiterführt. Etwa den von María José, die ihm als Kind wie „eine Art Gespenst“ erscheint – und damit auch eine jener Figuren ist zwischen den Polen Realität einerseits und Tod, Traum, Fantasie und Rausch andererseits. So auch Marias herzkranker Bruder, dessen bevorstehender Tod immer über ihm schwebt. Ein Ausflug mit der Straßenbahn in das „Totenviertel“ befördert Juanjo in diesen kaum fassbaren Existenzraum zwischen Wirklichkeit und einer anderen Welt.

Seinen poetischen Blick auf die Welt schult Juanjo permanent: Etwa während jener Zustände, die ihm das Fieber einer Krankheit beschert. „Das Wort Fieber ist das schönste der Sprache […]. Keine der Drogen, die ich später im Laufe meines Lebens ausprobierte, verschaffte mir die halluzinogenen Erfahrungen des Fiebers.“

Ähnlich motiviert ist seine Sicht auf die Straße, die dem Roman zu seinem Titel verholfen hat: Vom Kellerfenster des Nachbarjungen aus blickt er darauf und die neu gewonnene Perspektive eröffnet ihm ein wundersam verwandeltes Sichtfeld. Es verschafft ihm eine neue Schau auf diesen sonst alltäglichen Anblick der Straße: Die Dinge verlieren ihre „übliche Trivialität“ und „Alltagseigenschaften“.

Titelbild

Juan José Millás: Meine Straße war die Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
205 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100490131

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