Viele Szenen anschaulich ausgemalt

Assia Djebar über ihre Kindheit und Jugend in Algerien

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die aus dem Maghreb stammende Schriftstellerin Assia Djebar dürfte auch deutschen Lesern nicht mehr ganz unbekannt sein. Erhielt sie doch im Herbst 2000 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zudem hat sie viele lesenswerte und mit Preisen bedachte Bücher veröffentlicht. Ihr neues Buch – die französische Originalausgabe erschien 2007 – liegt unter dem Titel „Nirgendwo im Haus meines Vaters“ nun auch in deutscher Übersetzung vor.

Hier spürt die Schriftstellerin (sie wurde 1936 unter dem Namen Fatima Zohra Imalayène in Cherchell bei Algier geboren) intensiv ihrer Kindheit nach. Zunächst sieht sie sich als kleines Kind von „zweieinhalb, vielleicht drei“ Jahren und lässt dann das Mädchen wieder aufleben, das seinen ersten heftigen Kummer hat. Sie erinnert sich an viele frühe Episoden aus der Zeit zwischen 1936 bis 1953 und führt den christlich-europäisch aufgewachsenen Leser in eine ihm völlig fremde Welt, für die Assia Djebar viele poetische Bilder findet. Einzelne Szenen malt sie anschaulich, zuweilen auch genüsslich und später selbstquälerisch aus, für den abendländischen Geschmack und ungeduldige Leser mitunter gar zu ausführlich. Immerhin erzählt die Autorin – mal in der Ich-Perspektive, mal von sich in der dritten Person – nicht einfach drauf los, sondern benutzt zahlreiche Umwege. Zwischendurch fragt sie sich: „Ist es wirklich mein Gedächtnis, das dieses Geschehen rekonstruiert? Oder erfinde ich es, ohne es zu wollen?“

Aber bleiben wir weiter mit der Autorin auf der Spur ihrer frühen Lebensjahre. Sie macht uns mit dem Fastenmonat Ramadan vertraut sowie mit den Ritualen im Hammam, dem maurischen Bad, das sie mit ihrer Mutter jeden Donnerstag besuchte. Assia Djebars nur neunzehn Jahre ältere Mutter, die einer angesehenen maurischen Familie entstammte, genoss in Caesarea, „wo das Leben immer noch unverändert den andalusischen Bräuchen folgte“, gewisse Privilegien. Doch konnte sie nicht unverhüllt, also ohne Schleier, auf die Straße gehen und war daher hierbei auf die Begleitung ihrer Tochter angewiesen. Später, wenn sie Reisen unternahm, habe sie sich, schreibt ihre Tochter, problemlos in eine westliche Frau verwandelt.

Mit fünf oder sechs Jahren liest die algerische Schriftstellerin das erste Buch und vergießt darüber Tränen, die auch später noch reichlich fließen sollten. Vor allem in der Zeit zwischen zehn und siebzehn Jahren weitet sich ihre Innenwelt durch Bücher weiter aus, und dabei folgt Entdeckung auf Entdeckung. Unwillkürlich fühlt man sich an Ulla Hahns autobiografischen Roman „Das verborgene Wort“ erinnert.

Assia Djebar ist ein Mädchen, das europäisch aussieht, aber nicht ist, und für das sich vieles nicht schickt, beispielsweise den Vater auf der Straße spontan zu küssen. Sie kommt ins Internat in Blida und freundet sich mit einem europäischen Mädchen an. Den eintönigen Unterhaltungen der arabischen Mädchen vermag sie nichts abzugewinnen. Die Freundschaft mit Mag jedoch hält sie „in der beengten und durch die Teilung der Kolonie geprägten Atmosphäre des Pensionats“ davon ab, sich allzu sehr in sich selbst zurück zu ziehen. Daneben spielt Musik eine große Rolle und erst recht das Tanzen. Sie habe es genossen, gesteht sie, wenn der Rhythmus von ihrem Körper Besitz ergriff. Zudem spielt sie mit Leidenschaft Basketball. Unstillbar aber bleibt weiterhin der Hunger nach Büchern.

Sie trifft erste Verabredungen und überlegt, warum zwei junge Menschen, die beide von Geburt an Muslime sind, in diesem Land, wenn sie sich treffen, unbedingt „die Kadaver ihrer Vorfahren ausgraben“ müssen? Nachdem die Geschlechter innerhalb der muslimischen Gesellschaft jahrhundertelang getrennt waren, kann man offensichtlich nicht offen und aufrichtig miteinander reden, und sie überlegt, ob das auch weiterhin für sie und ihre Altersgenossen gelten müsse. Zudem sagt sie sich oft bei geheimen Treffen mit einem Freund oder Bekannten: „Wenn mein Vater das erfährt, bringt er mich um.“ Denn nicht wenige muslimische Mädchen werden immer noch Opfer der zwanghaften Strenge ihres Vaters.

Im frühen Kindesalter indes fühlte sich Assia Djebar durchaus als „Tochter ihres Vaters“, der als einziger arabischer Lehrer an einer Schule der französischen Kolonialmacht lehrte, während seine Tochter die einzige arabische Schülerin in der Klasse war. Sie lernte französisch und kleidete sich europäisch

Ihr fällt ein, dass ihr Vater daran festhielt, den türkischen roten Fez zu tragen, und erinnert sich daran, wie sein ideales Bild einen Riss bekam, als er ihr, seiner Tochter, das Fahrradfahren verbot, weil er nicht wollte, dass sie „aufs Fahrrad steigt und ihre Beine zeigt.“ Gegenüber dem heranwachsenden Mädchen zeigt er sich als Sittenwächter von puritanischer Strenge, obwohl er seiner Tochter zunächst den Weg in die Welt gewiesen und seiner Frau eine wirkliche Gleichberechtigung ermöglicht hat.

Eines Tages – es ist Anfang Juli 1952 – zerreißt der Vater den Brief, den ein Unbekannter an seine Tochter geschrieben hat. Assia kommt hinzu und sieht das vor Wut verzerrte Gesicht ihres Vaters. Anfangs weiß sie gar nicht, worum es geht. Aber bald erkennt sie, dass es sich um einen völlig belanglosen Brief handelt, den ein junger Mann, ein Student aus der Stadt, in der sie im Internat ist, an sie gerichtet hat, weil er mit ihr eine Brieffreundschaft beginnen will. Nach Ansicht des Vaters jedoch plante sie offenbar, ungehorsam zu sein, und beging damit eine schwere Sünde.

Trotz seines Glaubens an die Französische Revolution, und seiner Überzeugung von den Vorzügen der Bildung, wird er bei seiner ältesten Tochter, wie diese schreibt, zum „Bewacher des Gynäkeions“.

Der Vater kann nicht aus seiner Haut heraus und sich von der Tradition, in der er groß geworden ist, nicht ohne weiteres lösen. So hat er auch in frühen Jahren seine Tochter nie an die Hand genommen, weil „Männer seiner Religionsgemeinschaft“ allein voran schritten. Er war Befreier und Richter zugleich.

Im Alter von siebzehn Jahren wirft sich die Autorin nach einem Streit mit ihrem Freund vor eine Straßenbahn, kommt aber glimpflich davon. In mehreren Ansätzen und Anläufen versucht sie nun im Rückblick, das, was sie damals angetrieben hat, zu begreifen.

Dabei deutet die Autorin kurz an, dass sich Algerien zu jener Zeit im Aufbruch befand, als ihre persönliche Geschichte im Herbst 1953 vor dem Algerienkrieg „auf Grund“ lief. Warum entlud sich der dunkle Drang plötzlich in dem Blitz eines unüberlegten Triebes, fragt sie sich. Lag es daran, dass sie „Nirgendwo im Haus meines Vaters“ wirklich zu Hause war? Immer wieder kehren ihre Gedanken zu jenem verhängnisvollen Augenblick zurück, an dem vielleicht auch der Vater als Opfer seiner Unwissenheit und Strenge und der Vorurteile seiner Gruppe mitschuldig war.

Im Epilog bekennt die algerische Schriftstellerin, dass sie in der Tat keinen Ort im Haus ihres Vaters in diesem angeblich befreiten Land gefunden habe, in dem alle Töchter ungestraft von den Söhnen ihrer Väter um ihr Erbe betrogen werden. „Warum, warum nur haben ich und all die anderen Frauen keinen Platz ‘nirgendwo im Hause meines Vaters’“, lautet ihre bange Frage.

Titelbild

Assia Djebar: Nirgendwo im Hause meines Vaters. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Marlene Frucht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
442 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783100145000

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