Jenseits des Modischen

Jost Hermand hat sich fünfzig Jahre lang mit der Germanistik beschäftigt

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohl so mancher unter den älteren Germanisten möchte, was er um 1968 schrieb, wenn nicht ungeschehen machen, so doch unter Jugendsünden verbuchen. Aus einer solchen Sicht hat die engagierte Wissenschaft historisch durch eine erfolgreiche Modernisierung der Bundesrepublik jede mögliche Funktion verloren. Wenn dagegen Jost Hermand unter dem Titel „Fünfzig Jahre Germanistik“ programmatische Texte und Blicke auf die Fachgeschichte aus einem halben Jahrhundert zusammenfasst, so ist nichts von dieser Distanzierung zu spüren und nur sehr wenig an Relativierung.

Natürlich verschieben sich die Akzente von dem Vorwort zum Naturalismus-Band aus der zusammen mit dem Marburger Kunsthistoriker Richard Hamann konzipierten Reihe „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“ (1959) bis zu einem Beitrag über „Probleme der literarischen Wertung in der deutschen Germanistik“ von 2009. Hermand ist ein viel zu wacher Beobachter des Zeitgeschehens, als dass er nicht stets auf gesellschaftliche und innerfachliche Entwicklungen reagiert hätte. Dennoch hinterlassen die dreißig Texte, die dieser Band versammelt, einen außerordentlich geschlossenen Eindruck. Ihnen allen ist gemeinsam, dass Literatur und dass Kunst überhaupt als eng mit der Gesellschaft verknüpft vorgestellt werden. Das führt bei Hermand nie zu einem Determinismus, bei dem die Kunst nur dasjenige noch einmal erzählt, was man aus der Sozialgeschichte ohnehin weiß.

So deutlich es wird, dass Kunst eine relative Autonomie besitzt: Von Beginn an wendet sich Hermand gegen eine Interpretationswissenschaft, die sich auf den Einzeltext beschränkt. Kritisierten die frühesten Beiträge noch eine von Emil Staiger oder Wolfgang Kayser herkommende werkimmanente Literaturbetrachtung, so erschien 1975 der Strukturalismus in seinem formalistischen Herangehen als ein nur scheinbar modernerer Ersatz für diese Richtung. 1994 fertigte Hermand dann in einem Kapitel seiner „Geschichte der Germanistik“ „Diskursanalytische Verfahrensweisen“ auch ideologiekritisch als eskapistisch ab. Tatsächlich ist die Anti-Hermeneutik mancher Poststrukturalisten, die überall nach Brüchen und damit nach Hinweisen auf das Textuelle des Textes suchen, nichts als eine radikalisierte Hermeneutik – nur dass sich das immergleiche Ergebnis von der Unmöglichkeit, feste Aussagen zu treffen, noch öder ausnimmt als das auch ohnehin beschränkte Repertoire allmenschlicher Werte, das die Staiger-Schule an großer Literatur festzumachen suchte. Auch hat es seinen produktiven Reiz, wie Hermand eine ganze Gruppe abfertigt, als wäre es kein Unterschied, ob man sich auf Jacques Lacan, Jacques Derrida oder Michel Foucault beruft. Man hat dann eine Basis für einen grundsätzlichen Streit, der sich wohl kaum an einem Aufsatz entzündete, der jedem Komma der rezipierten Autoren gerecht würde.

Und doch ergeben sich Fragen. Offensichtlich hielt Hermand dieses Kapitel für besonders wichtig (auch andere Abschnitte der „Geschichte der Germanistik“ hätten thematisch in den Kontext seines neuen Bandes gepasst). Aber besteht hier nicht nach Hermands eigenen Maßstäben Revisionsbedarf? Schließlich sind es heute innerhalb einer von Hermand beklagten entpolitisierten Germanistik häufig Diskursanalytiker, die mit Foucaults Verfahren (nicht notwendigerweise seinen Meinungen) noch Verhältnisse von Unterdrückung und Emanzipation benennen. Man kann dann, mit Hermand, immer noch kritisieren, wie sie das methodisch tun. Im Hinblick auf die im letzten Absatz des Buches formulierte Forderung: „ideologischen Einengungen und sozialen Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft entgegenzutreten“, kann jedoch die Zusammenarbeit mit solchen Diskursanalytikern sinnvoll sein.

Auch ist die Diskursanalyse heute Bestandteil einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, wie sie Hermand bereits in einem Beitrag von 1985 begrüßt hatte und wie sie sich heute sowohl innerhalb der Germanistik und als auch als eigenes Fach eine beachtliche Stellung erobert hat. Interdisziplinarität ist seit der Zusammenarbeit mit Hamann ein wichtiges Merkmal von Hermands Arbeit – dies zeigen etwa seine zweibändige Kulturgeschichte der Bundesrepublik von 1986/88 und der zusammen mit Frank Trommler verfasste Band zur Kultur der Weimarer Republik von 1978. Doch kann vor dem Hintergrund der demokratisch-gesellschaftsbezogenen Funktionsbestimmung der Wissenschaft, die Hermand vornimmt, Interdisziplinarität kein Wert an sich sein. Auch aus diesem Grund vermisst man in der Sammlung schmerzlich einen Beitrag, der sich mit der Erfolgsgeschichte der Kulturwissenschaft auseinandersetzt. Haben sich die vor einem Vierteljahrhundert formulierten Erwartungen erfüllt? Oder hat auch der kulturwissenschaftliche Ansatz im Zuge seiner Etablierung eine selbstbezüglich-konservative Ausprägung entwickelt? Was bedeutet die Gleichzeitigkeit von methodischem Erfolg einerseits, verschärftem Konformitätsdruck im neu eingerichteten Kampf um Drittmittel und der Degeneration der Universität zur Lernfabrik im Bologna-Prozess andererseits? Hier wäre man auf Hermands Einschätzung neugierig gewesen.

Doch bringt der Band vieles andere. Erwähnt seien nur kurz Überlegungen besonders um 1970, wie Gattungsbegriffe wieder historisch produktiv zu machen wären; der sich in vielen der Beiträge zeigende Blick des lange in den USA lehrenden Germanisten, der deutsche Vorgänge ins Ausland vermittelt und gleichzeitig auf das Land seiner Forschungen mit Distanz sieht; besonders in den neueren Aufsätzen eine autobiografische Reflexion. Durchgängiges Thema aber sind Epochenbegriffe, die nicht zufällig im Zentrum von Hermands Ansatz stehen. Findet man es ungenügend, literarische Werke allein auf ihre formale Geschlossenheit hin oder zu überzeitlichen Werten zu befragen, so stellt sich die Frage nach der Geschichte – und jede Geschichtsschreibung gliedert.

Die Frage nun, nach welchen Maßstäben zu gliedern sei, spielt schon in der Naturalismus-Einleitung von 1959 eine Rolle und ist noch für einen Beitrag von 2008 zentral. Neben der Jahrhundertwende-Literatur um 1900 ist dabei vor allem die Zeit zwischen 1815 und 1848 Thema, und dabei die durchaus politische Entscheidung, ob es sich um das Biedermeier oder den Vormärz handele. Vielfach wird, dank Hermands interdisziplinärem Zugriff, gezeigt, wie Epochenbegriffe zwischen Kunst- und Literaturwissenschaft übertragen werden; doch sind solche Vorgänge für eine historisch und politisch bewusste Germanistik geschichtlich interessantes Material, aber keine Lösung.

Wichtiger ist vielmehr die Frage, wie sich das Verhältnis von politik- und sozialgeschichtlichen Einschnitten zur Entwicklung der Literatur darstellen lässt. Hermand befasst sich hier mit einem sehr dringenden Problem: Schaut man sich etwa die Inhaltverzeichnisse der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Sozialgeschichten der Literatur an, so blickt man auf ein buntes Nebeneinander von politikgeschichtlichen, gruppenspezifischen sowie nach Medien, Genres und Stilen gegliederten Abschnitten. Die unbefriedigende Lage ist in der Sache begründet: Geht es einerseits nicht an, Literatur allein nach ihr äußeren historischen Daten zu gliedern, so ist doch, wie auch Hermand betont, eine Abfolge von Stilen spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht festzustellen. Der Literaturmarkt ist durch die Gleichzeitigkeit, häufig durch ein Gegeneinander verschiedener Schreibweisen gekennzeichnet.

Die eine Möglichkeit läge also darin, Literatur als relativ autonomes System anzusehen, in dem irgendwann quantitative Verschiebungen in eine neue Qualität umschlagen. Eine solche literaturspezifische Epochenbestimmung verlangte eine enorme Lektürekapazität und dabei eine Spezialisierung, die Hermands Bestimmung einer engagierten Wissenschaft widerspräche. So ist es konsequent, wenn er sich doch wieder an politischen Einschnitten orientiert. Freilich ist seine Definition der Zeit zwischen 1815 und 1848 als Epoche der Metternich’schen Restauration nicht ganz überzeugend. Die politischen Zustände vor der Französischen Revolution wurden nicht wiederhergestellt, die beginnende Industrialisierung legte in diesen dreieinhalb Jahrzehnten die Grundlage dafür, auch die alten Herrschaftsverhältnisse zu sprengen. Untergründig ist diese Zeit eine des raschen Fortschritts.

Dabei muss, wer die Kultur einer Zeit bestimmt, sich darüber bewusst sein, auf welcher Ebene der Kultur er sich bewegt. Vielleicht ist es besonders die US-Perspektive, die Hermand darauf verweist, dass Hochkultur die Sache einer kleinen Minderheit ist. Wo Hochkultur als von außen importiert erscheint, muss sie fragwürdig erscheinen, was nicht bedeutet, sie zu verneinen. Entsprechend ist für Hermand, wie er in einem Aufsatztitel betont, die Wahl zwischen einer E-Kultur und einer U-Kultur die „falsche Alternative“. Dem Ernst einerseits, der Unterhaltung andererseits setzt er eine „A-Kunst“, eine „neue Allgemein-Literatur, welche die wirklichen Interessen der Mehrheit des Volkes vertritt“.

So richtig es bleibt, dass von Interessen die Rede ist und dass Interessen als objektiv bestimmt gedacht werden und nicht in vagen Geschmackskategorien: Wie diese „A-Kunst“ inhaltlich und formal aussehen könnte, welchen Raum sie im Gesamtgefüge der Medien gewinnen mag, all das ist leider nirgends ausgeführt. Auch lassen sich „wirkliche Interessen“ zwar vergleichsweise auf politischem und ökonomischem Gebiet angeben. Auf dem Feld der Kultur sind sie indessen verschiebbar, und die „legendären 4,76 Prozent“, die Hermand in mehreren Beiträgen etwas sarkastisch als den Interessentenkreis für Hochkultur angibt, sind nicht naturgesetzlich vorgegeben, sondern lassen sich vermehren. Gerade wenn man, wie Hermand es noch im Schlussabschnitt seines neuesten Vortrags eine Wissenschaft für die Demokratie fordert, kann das ja nicht heißen: „Für alle das Allgemeine“, sondern muss es heißen: „Für alle das Beste!“ Und das beste ist die Hochkultur, die von Leuten mit Zeit und Muße zur Spezialisierung hergestellt wurde für Leute mit Zeit und Muße zur Spezialisierung.

Doch bei aller Kritik am einzelnen Detail der Vorzug von Hermands Ansatz, dass er nicht selbstgenügsam den Wissenschaftsbetrieb bedient, sondern mit prägnanten Formulierungen zum Streit über solche zentralen Fragen aufruft. So haben diese Aufsätze aus fünfzig Jahren Germanistik keineswegs allein historischen Informationswert, sondern haben in ihrer Mehrzahl die vielen literaturwissenschaftlichen Moden dieser Epoche überdauert.

Titelbild

Jost Hermand: Fünfzig Jahre Germanistik. Aufsätze, Statements, Polemiken 1959 - 2009.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a.M. 2009.
402 Seiten, 61,30 EUR.
ISBN-13: 9783039118779

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