Reisen nach Absurdistan

Linus Reichlin zeigt in „Der Assistent der Sterne“, wie man keinen Plot konstruiert

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Das Schöne an Rezensionen ist, dass die Kolleginnen und Kollegen überhaupt nicht derselben Meinung sind und einen Roman, den man selber für völlig misslungen hält, in den höchsten Tönen loben. Linus Reichlins Debut „Die Sehnsucht der Atome“, 2008 bei Eichborn erschienen, habe ich an dieser Stelle ein ganz schlechtes Attest ausgestellt. Dennoch hat sich Reichlins Roman monatelang auf der KrimiWelt-Bestenliste gehalten, wurde für den Glauser-Preis 2009 nominiert und erhielt den Deutschen Krimipreis 2009. In den vergangenen Jahren sind nun dermaßen viele außergewöhnliche deutschsprachige Krimis erschienen, dass diese Preishäufung erstaunlich ist. Wenns aber nicht an den Kolleginnen und Kollegen liegt (die alle nett und kompetent sind), dann an mir. Mea culpa – aber das macht den Text auch nicht besser.

Immerhin hat Reichlin nun einen zweiten Roman nachgeschoben. Und wieder ist es jener melancholische deutsche Held in Belgien, der sich wohlgemerkt „leidenschaftlich“ für Physik interessiert. Mittlerweile hat er seinen Abschied von der Polizei genommen, hat eine neue, blinde Freundin, die ein Kind von ihm erwartet und fliegt – damit die Handlung beginnen kann – auf das Privatseminar eines Volkshochschul-Physikdozenten nach Island.

Dort gerät er in die Querelen dieses Dozenten mit dessen junger Assistentin, die gleich als Liebeshändel erkennbar sind, macht sich schnell wieder von dannen, die junge Frau im Schlepptau, verbringt eine voll- und liebestrunkene Nacht mit ihr, bevor er dann nach Belgien an Heim und Herd zurückkehren kann.

Mit beidem ist es zwar nicht allzu weit her, denn die werdende Mutter und der werdende Vater leben getrennt, der Held, Jensen, wohnt derzeit sogar in einem Hotel, da daheim ein Kamin eingebaut werden soll. Aber immerhin soll nun weitergehen, was anfangs für einige Wochen ausgesetzt werden sollte: Die beiden wollen sich zusammenfinden. Das macht sich auch ganz ansehnlich, obwohl Jensen von der Liaison eine sich entzündende Bisswunde davongetragen hat (jaja, der Taumel der Lust, vor einer Blinden ist das ja ganz gut zu verstecken).

Bis dann die Freundin, Annick, Jensen zu ihrer „besten Freundin“ schleppt, der ein afrikanischer Wahrsager mitgeteilt hat, dass ihre Tochter von einem Mann mit einem Mal am Hals getötet werden wird. Jensen, ganz Skeptiker, glaubt an nichts, das Wundmal ist ihm zwar lästig, aber das ist noch lange kein Grund, an Wahrsagerei zu glauben.

Ist die Handlung bis hierhin schon konstruiert genug, wird das Ganze geradezu absurd, als sich herausstellt, dass die schöne Assistentin und die bedrohte Tochter ein und dieselbe Person sind, trotz verschiedener Namen. Kein großer Schritt also, sich selbst gleich für den potentiellen Mörder zu halten, zumal der Wahrsager zuvor schon Jensen aufgefordert hat, sich von einer Frau, die den Namen der Tochter führt, fern zu halten. Da außerdem noch die beste Freundin Annicks vor Aufregung ihren dritten Infarkt erlebt und kurz danach stirbt, nimmt Jensen den Auftrag aus dem nunmehrigen Jenseits an und ermittelt.

Dass die Tochter/Assistentin schließlich wirklich tot ist, dass Jensen unter Mordverdacht gerät, bedroht und entführt wird, schließlich über Surinam zurück nach Belgien kommt, ist dann schon gar nicht mehr Kriterien wie Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit geschuldet, sondern einfach nur noch – wahlweise – egal oder abzusehen.

Wer es sich als Autor erlaubt, derart bemühte Konstruktionen in die Welt zu setzen und sie auch noch als Schicksal auszugeben (hoffen wir mal, dass das den Klappentextern zuzuschreiben ist), der ist auch in der Wahl seiner sonstigen Mittel nicht zimperlich. Wahrscheinlich gilt so etwas noch gemeinhin – wiederum wahlweise – als kreativ oder ausgeklügelt, wo es doch wohl am Ende doch kaum mehr als beliebig ist.

Jedenfalls ist die Mischung aus Allerweltsweisheiten („gewiss ist nur die Vergangenheit“, sinngemäß) und vorgeblich avancierter Neo-Physik („denn sie wären mit allen Menschen eins, untrennbar verbunden, wie die Zwillingsphotonen“) dazu angetan, den Roman als pseudointellektuelle Abhandlung über den Gang der Welt und die Möglichkeit von Wahrsagerei zu positionieren.

Aber wenn das Reichlins Absicht gewesen sein sollte, dann bleibt nur einzuwenden, dass es fairer gewesen wäre, sich gleich ganz auf Formate wie „Ghost Whisperer“ zu werfen. Da weiß man wenigstens von vorneherein, dass das alles Unsinn ist, muss sich nicht über lange Seiten quälen, weil ein solcher Text ins falsche Genre geraten ist, und kann sich ohne moralischen Ekel seinen absurden Neigungen hingeben. Die sind immerhin genau so viel Wert wie jede andere auch. Aber als Krimi? Bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst mich nicht an Euch zweifeln.

Titelbild

Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2009.
380 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783869710037

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