„Er war ein rarer Vogel im Gefilde der Literatur“

Ein Sammelband entdeckt den Romancier und Freund Wilhelm Speyer wieder

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

In den Tagebüchern von Thomas Mann wird Wilhelm Speyer freundlich erwähnt, mit Bruno Frank verband ihn seit der gemeinsamen Zeit im Internat in Haubinda eine tiefe Freundschaft, mit Walter Benjamin hat er zusammen gearbeitet. Er beschrieb – wie so viele Autoren – das Berlin der 1920er-Jahre, erlebte mit seinen Jugend- und Gesellschaftsromanen sowie Theaterstücken große kommerzielle Erfolge, die Verfilmung seiner Werke und dann den Aufstieg des Nationalsozialismus. Er emigrierte über Frankreich in die Vereinigten Staaten (mit Hilfe des Emergency Rescue Committee), wo er in den besten Emigrantenkreisen verkehrte und (durch Vermittlung des European Film Fund) Drehbücher für Hollywood verfasste. Warum also geriet ein Mann mit diesem Œuvre und diesem Lebenslauf in Vergessenheit? Die Frage lässt sich wohl am besten damit erklären, dass sich Speyer der Zuordnung zu einem Stil oder einer Gruppe vehement verschließt. Er gehört weder dem Expressionismus noch der Neuen Sachlichkeit an, Etiketten, die eine langfristige „Vermarktung“ vielleicht erleichtert hätten. So schreibt Alfred Döblin in seinem Nachruf, „er war nicht revolutionär, nicht genug von Einfluß, nicht ein Mann der großen Gebärde, aber das Einmalige seiner Art, die feinen Töne festzuhalten […], wird seinen Lesern ein freudiges Wunder und eine Verführung zum träumerischen Nachdenken über das Leben bleiben.“ Speyers Werke erschienen bei Ullstein, dem Verlag, der das Konfektions-Prinzip der Textilindustrie auf die Produktion seiner Romane übertrug, was nicht ohne Folgen für den Inhalt blieb. Speyer, wie außer ihm vielleicht noch Vicki Baum, bediente das Format ohne Gefahr zu laufen, der Austauschbarkeit anheimzufallen.

Dennoch, wenn Zeitgenossen über Speyer reden, dann mehr über den Menschen, den Zuhörer, den Freund als über den erfolgreichen Autor. Selbst der oft als schwierig beschriebene Bertolt Brecht kam mit ihm zurecht. Es wundert daher nicht, dass zu den spannendsten und aufschlussreichsten Kapiteln des Bandes die Beschreibung der Beziehung zwischen Speyer und Benjamin gehört. Anhand von Briefen und Tagebüchern lässt sich ihre Exilzeit in Frankreich nachzeichnen und es wird klar, worin in vielerlei Hinsicht das heutige Interesse an der Person Speyer liegen kann: In seiner Zeitzeugenschaft und in seiner Nähe zu berühmten Weggefährten.

Das Exil bedeutete für Speyer, wie für viele seiner Leidensgenossen, von seinem Publikum abgeschnitten zu sein. Seine Arbeit für Metro-Goldwyn-Mayer frustrierte ihn als ihm klar wurde, dass an seinen Ideen niemand Interesse hatte; seine Treatments, die er kontinuierlich einreichte, wurden nie realisiert.

Sein wichtigstes Werk, im Exil geschrieben und eine Art Vermächtnis, ist der stark autobiografisch gefärbte Roman „Das Glück der Andernachs“. Darin wird eine jüdische Berliner Familie, lebend in der Jägerstraße (in der auch Rahel Varnhagen wohnte), bereits im Jahr 1887 mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus konfrontiert. Dass der 1947 erschienene Roman zuletzt in den 1980er-Jahren vom S. Fischer Verlag aufgelegt wurde, zeigt, dass die Wiederentdeckung, die die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes suggerieren, wohl noch aussteht. Nicht viel besser steht es mit dem Jugendroman „Die Stunde des Tigers“ (1939), in dem Speyer auf Grundlage einer Pfadfinder-Geschichte für eine humanere Gesellschaft plädiert. Während man darüber streiten kann, ob die frühen Unterhaltungsromane einer erneuten Lektüre standhalten, sind es diese beiden Werke, die die Wiederentdeckung dieses Autors in besonderem Maße lohnen. Es gilt also immer noch, diesen „raren Vogel im Gefilde der Literatur“, wie Ludwig Marcuse ihn nannte, wiederzuentdecken.

Titelbild

Helga Karrenbrock / Walter Fähnders (Hg.): Wilhelm Speyer (1887-1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
244 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783895286520

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch