Gequassel auf hohem Niveau

Marianne Faithfull zeigt sich in „Memories“ als wandlungsfähige Künstlerin

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Es sei „eine wissenschaftliche Tatsache, dass die Angst produzierenden Zellen mit zunehmendem Alter einfach verschwinden“, zitiert Marianne Faithfull ihren Freund Leonhard Cohen, der 75 Jahre alt ist und es also wissen muss. Es sind solcherlei aphoristische Zuspitzungen, welche die „Memories“ lesenswert machen. Dabei führt der Titel durchaus in die Irre, denn ihre Autobiografie hat Faithfull, geboren 1946, bereits 1994 geschrieben. „Memories. Dreams and Reflections“ heißt denn auch die Originalausgabe; und tatsächlich handelt es sich bei den „Memories“ aus dem Jahr 2007 eher um das Protokoll eines Gespräches, das der Co-Autor David Dalton aufgeschrieben hat und das auch auf der Couch eines Therapeuten stattgefunden haben könnte.

Denn Faithfull lässt hier noch einmal wichtige Stationen ihres Lebens vorüberziehen, und manche der Höhen, aber mehr noch die vielen Abstürze werden aus der Sicht einer inzwischen gereiften Frau reflektiert. Das vorherrschende Gefühl der wilden Sixties, das sich in einem übersteigerten Selbstbewusstsein äußerte („Sind wir nicht der großartigste Haufen junger Genies, die diesen Planeten beglücken“), führt sie auf den selbstmörderischen Drogenkonsum zurück. Ihren eigenen Hang zur Dekadenz und zur „Talmi-Boheme“ sieht sie in Herkunft und Erziehung ihrer Eltern begründet, von denen sie gleichwohl anrührende Porträts entwirft. „Mein Vater, Major Faithfull, war Spion beim MI6, dem Geheimdienst“, die Mutter eine extravagante jüdische Schönheit aus der österreichischen Familie von Sacher-Masoch, der Mick Jagger großzügig ein Haus überließ, obwohl er sich von ihrer Tochter längst getrennt hatte.

Die Entwurzelungen infolge der Kriegsereignisse führten zu einer Lebensgier, die sich auch auf die nächste Generation übertrug. Hier paarten sich weltoffene Neugierde und kindliche Naivität. Das Ergebnis war eine stets fragile Kreativität, die bis heute anhält. Faithfull wechselte nicht nur von der Flower-Power-Periode, in der sie für die Rolling Stones „As tears go by“ schrieb, zur Neuen Sachlichkeit der Weimarer Zeit, indem sie Lieder von Bertolt Brecht und Kurt Weill interpretierte, sondern gelangte jüngst auch wieder zum Film zurück, wo sie 2007 als „Irina Palm“ auf der Berlinale Triumphe feierte. Ihre freimütigen Bekenntnisse erinnern bisweilen an das unstrukturierte Gequassel, wie wir es in den Filmen der Warhol-Factory erleben können. Trotzdem offenbart sich in ihnen eine „musikalische Riesenmaus“ (Faithfull über Joe Jackson) als menschlicher Gefühlsriese.

Titelbild

Marianne Faithfull: Memories.
Übersetzt aus dem Englischen von Elfreide Peschel.
Blanvalet Verlag, München 2009.
319 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783764503062

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