Jüdische Turnväter

Daniel Wildmann untersucht Männlichkeitskonstruktionen in jüdischen Turnvereinen Deutschlands um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Bekanntlich werden Juden zwar besonders gerne, aber nicht nur von Rassisten und Frauenfeinden aller Couleur feminisiert. Eine Diskriminierungsstrategie, der bereits zahlreiche Untersuchungen gewidmet wurden. Auch Daniel Wildmann, seit 2006 Deputy Director des Leo Baeck Institute London, interessiert sich für die Geschlechterkonstruktion(en) jüdischer Männer. Doch geht er in seiner Arbeit „Der veränderbare Körper“ einem ganz anderen Aspekt der Geschlechterkonstruktion jüdischer Männlichkeit nach und fragt, welches Männlichkeitsideal deutsche Juden anstrebten, die sich zwischen 1898 und 1921 in jüdischen Turnvereinen zusammenschlossen, und wie sie es im wörtlichen Sinne zu verkörpern versuchten. Weiter legt die Studie „Motivlagen, Konzepte und Praktiken“ der in eigenen Vereinen zusammengeschlossenen jüdischen Turner und Turnerinnen dar, die darauf zielten, „in Deutschland ein jüdisches Kollektiv zu denken, zu definieren und zu formen“.

Der Untersuchungszeitraum 1898 bis 1921 ergibt sich aus dem Gründungsjahr des ersten jüdischen Turnvereins in Deutschland, dem „JTV Bar Kochba“, der 1898 in Berlin ins Leben gerufen wurde. 1921 wurde der im Ersten Weltkrieg zusammengebrochene „internationale Dachverband nationaljüdischer Turnvereine“ neuerlich gegründet, womit eine „lange erste Phase der Vereins- und Verbandsgeschichte dieser Turnvereine ihr Ende“ und „in einen Neubeginn [mündete]“.

Wie man sich leicht vorstellen kann, war Wildmann während seiner Arbeit mit einer denkbar schlechten Quellenlage konfrontiert. Zum einen, weil die Anlage und Pflege von Archiven das „Tätigkeitsfeld“ und die „Expertise“ von Turnvereinen „spreng[en]“, vor allem aber wegen des mörderischen Vernichtungswillens der Nationalsozialisten, die nicht nur den Völkermord an den Juden anstrebten, sondern auch jede Erinnerung an sie auslöschen wollten. So sind heute kaum noch „Protokolle, Briefwechsel, Mitgliederlisten oder interne Denkschriften“ auffindbar. Dennoch fündig wurde der Autor nicht etwa in deutschen Archiven, sondern in der bei Tel Aviv gelegenen Stadt Ramat Gan, in der das Archiv der „Maccabi World Union“ ein Domizil gefunden hat, sowie in Jerusalem, wo sich die „Central Zionist Archives“ und die „Central Archives for the History of the Jewish People“ befinden. Ergänzend wertete der Autor die „Jüdische Turnzeitung“ aus, das Publikationsorgan des Dachverbandes jüdischer Turnvereine in Deutschland.

Wie Wildmann zeigt, diskutierten die in eigenen Vereinen organisierten jüdischen Turner (und Turnerinnen) Deutschlands „die Konstitution individueller und kollektiver jüdischer Körper“, erörterten „deren Historizität und soziale Bedingtheit“ und versucht mit ihrem Turnen eben diese Körper zu formen. „[D]ass sie ihren Versuch ganz explizit mit dem Projekt einer konkreten Veränderung und Entwicklung ihres eigenen Körpers verbanden und sich für ihre Arbeit am Körper eine eigene Organisation schufen“, verlieh ihnen innerhalb des intellektuellen deutsch-jüdischen Zusammenhangs einen Ausnahmestatus.

Der Autor geht dem „Blick der Turner auf ihren Körper“ und den mit diesem Blick verknüpften „Einschätzungen jüdischer Körper, jüdischer Geschichte und Zukunftshoffnungen für Juden und Jüdinnen“ anhand der Themenbereiche Politik, Medizin und Geschlecht nach, wobei seine Untersuchung von einer dezidiert „körpergeschichtliche Herangehensweise“ getragen wird. Es ist diese Schwerpunktsetzung, die seine Untersuchung nicht nur für Forschende der Judaistik, sondern auch und gerade für Geschlechter- und KörpertheoretikerInnen besonders interessant macht.

Wildmann gliedert seine Buch in drei Hauptteile, in denen er „Organisation und Ideologie“ jüdischer Turnvereine im deutschen Kaiserreich, die „Körperpraxis“ der jüdischen Turner als „therapeutisches Projekt“ sowie schließlich die von den jüdischen Turnvereinen und ihren Anhängern propagierten Unterschiede zwischen „Turnen für Jüdinnen und Turnen für Juden“ sowie die tatsächlichen geschlechtsspezifischen Differenzen zwischen den Turnenden der beiden Geschlechter nachzeichnet und untersucht.

Trotz der fatalen Quellenlage hat der Autor eine ebenso informative wie erhellende Untersuchung zu einem bislang kaum bearbeiteten Forschungsfeld vorgelegt.

Titelbild

Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900.
Mohr Siebeck, Tübingen 2009.
329 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783161500947

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