Jenseits der „klaren konturen“

In „fallstreifen“ präsentiert sich Nico Bleutge als postmoderner poeta doctus

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind 45 Gedichte, aufgeteilt in sieben Abteilungen, die Nico Bleutge in seinen Band „fallstreifen“ aufnahm; dabei knüpft er insbesondere mit den Gedichten der ersten Abteilung – „aufgeblitzt“ – scheinbar nahtlos an die lyrische Diktion seines Erstlingsbandes „klare konturen“ (2006) an und führt fort, womit er dort am erfolgreichsten war: „es war vom schnee die rede, seiner härte / schnee, der sich in spalten frißt und risse / im gelände hinterläßt, sie sagte schnee / die stimme, aufgeblitzt. das bild / sackte in sich zusammen, flackerte / noch einmal auf. […]“

Wie zuvor in „klare konturen“ überzeugt Bleutge auch in den Eingangsgedichten von „fallstreifen“ vor allem durch die gelungene Verdichtung der synästhetischen Wahrnehmung der Welt zu lyrischen Vignetten von beeindruckender sprachlicher Präzision, deren Stil zuweilen an die lakonisch-tiefgründigen Betrachtungen Jürgen Beckers erinnert. Doch, und das spricht zweifellos für Bleutge, anstatt sich auf dem schon sicher Erreichten auszuruhen, verlässt er zunehmend diesen Pfad der subjektiven Weltwahrnehmung und schlägt neue lyrische Wege ein. Einer davon ist die bewusste Stilisierung zum postmodernen poeta doctus, der zeigt, was er kennt und was er weiß: So führt der Lyriker in einer kurzen Nachbemerkung auf, welche „Stimmen“ in seinen Gedichten ‚nachklingen‘ und erstellt eine Liste illustrer Namen, die Emily Dickinson und Amy Clampitt ebenso umfasst wie Gryphius, Lohenstein und Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Zu einem seiner Hauptthemen wiederum macht Bleutge das Gedächtnis, lange schon akademisches Lieblingskind kulturwissenschaftlicher Untersuchungen: „Das Gedächtnis ist ein stummes Archiv, in das die Erinnerung und die Wörter Leben hineinbringen. Doch das Erinnern liefert keine festen Bilder oder Geschichten, es sind nur Späne, Sprachsplitter und kleine Impulse, die aufleuchten, um sich bald schon zu verändern“ doziert der – ansonsten zu vernachlässigende – Klappentext.

Inwiefern das Gedächtnis ohne Sprache und Erinnerungen überhaupt zu existieren vermag, ist eine Frage, die hier nicht geklärt werden soll. Dass sich der hierbei postulierte proteische Zustand des Gedächtnisses jedoch in besonderem Maße zur literarischen Verarbeitung eignet, steht wohl außer Frage. Dabei füllt Bleutge das angeblich ‚stumme Archiv‘ vor allem mit allerlei Kriegserinnerungen – aus dem Dreißigjährigen Krieg ebenso wie aus dem Zweiten Weltkrieg: Dies führt neben der unangenehm hohen Frequenz von Verweisen auf „bunkerbetten“, „frontlinien“, „panzerwagen“ und „munitionsbaracken“ auch zu der nur bedingt überzeugenden neo-barocken Diktion des Gedichtes „glas“: „dies endlich stille tal, darin der wind sich dreht / darin das kraut, genährt, zum sitzen / lädt. mich treibt’s doch auf, ich kann den blick / von dieser larve nicht mehr wenden / das Bild wird stärker noch im kopf, da ich / alleine bin und denken kann, beim laufen / des mannes lippe kam mir vor die augen / und seine rede in den sinn, die leicht gebläute / zunge, die sich schob hervor […]“

Dass die literarische Verarbeitung von Kriegserlebnissen – gerade von jenen aus dem Zweiten Weltkrieg – in besonderem Maße des künstlerischen Geschicks und Feingefühls bedarf, steht wohl außer Zweifel; inwiefern Bleutges Versuch, durch Verweise auf authentische Quellen eine semi-dokumentarische Basis für seine Kriegsgedichte schaffen zu wollen, dafür eine geeignete Methode ist, erscheint allerdings fraglich: „beinahe schon die halbe nacht verstrichen. und noch immer / geht mir der frontgedanke durch den kopf. ich lieg im warmen / bunkerbett, der körper fühlt, die hand, mein ohr / hört mit der schärfe eines tieres, das gefahr wittert. orscha, / vom ruf getroffen, daß ich aus der heimat kam. drei wochen / flüge über weite strecken, verbände, das zusammensein / benutzt ich, hinlegend, mich zu unterweisen, ,eigener-‘, / ,fremder-‘, ,ungefährlicher‘ – leicht tastend, drängte meine angst / zurück. […]“.

In den abschließenden Gedichten der Abteilung „früher schnee“ kehrt Bleutge zu scheinbar Bekanntem zurück, doch wirken diese lyrischen Miniaturen insgesamt zu sehr ‚hingeworfen‘, als dass sie an die sprachliche und inhaltliche Präzision der Eingangsgedichte anknüpfen könnten: „das zucken der blätter / wenn es zu regnen beginnt, unbemerkt / für eine leicht gespannte weile / dann, plötzlich / laufen die augen hin und her“.

In „fallstreifen“ sind die vormals so überzeugenden „klaren konturen“, die Bleutges Gedichte ausmachten, einer lyrischen Polyphonie gewichen, die nicht immer uneingeschränkt zu begeistern vermag; bemerkenswert ist aber dennoch Bleutges Wunsch nach konsequenter Weiterentwicklung und der Ausweitung seines poetischen Repertoires; daher darf man gespannt sein darf, welche lyrischen Wege er in Zukunft beschreiten wird.

Titelbild

Nico Bleutge: Fallstreifen. Gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
79 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576874

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