„Aufbrüche, Ausbrüche, Einbrüche“

Ulla Hahns Anschluss-Roman „Aufbruch“

Von Juliane SchöneichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Schöneich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hildegard Palm, die Hilla, dat Hildejaard – wie nahe war man diesem Mädchen in Ulla Hahns erstem Roman „Das verborgene Wort“ (2001) gekommen. Wie authentisch erschienen die Figuren, das Rheinland der Nachkriegsjahre, die Dialoge im Dialekt. Wie nachvollziehbar war der Kampf des Mädchens um ein Leben, entgegen der vom bornierten, bildungsfeindlichen Elternhaus vorgezeichneten Richtung. Und nun? „Aufbruch“ setzt nahtlos dort an, wo die Geschichte Hillas im ersten Band aufhört – der Kampf um ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Vorgaben um Küche, Kinder und Kirche geht weiter, die Sprache bleibt Anker und Angelpunkt, Bildungshunger und Wissensdurst leiten das hartnäckige Mädchen.

Hilla, inzwischen sechzehn, darf dank des Einsatzes von Pfarrer und Lehrern das Gymnasium besuchen. Die verhasste Ausbildung im Büro lässt sie ebenso hinter sich wie den Alkoholismus und verschreibt sich der Schule, dem Abitur, Latein und Mathematik.

Das Lateinische zieht sich als Symbol für höheres Wissen und Gelehrsamkeit manchmal bis zum Überdruss durch das ganze Buch – bis in die Gespräche mit dem Bruder, die dadurch hölzern, gestelzt wirken und an Glaubwürdigkeit und Nähe verlieren. Lebendig wie im letzten Band dagegen die Dialoge der Dondorfer Frauen überm Katalog, die stumme Zwiesprache mit dem toten Großvater, die Auseinandersetzungen mit dem Vater. Die verschiedenen Rollen der Hilla Palm spiegeln sich in ihrer Verwendung der Sprache: zwischen Hochdeutsch, Mittelhochdeutsch, tiefstem Dialekt und in deren Mischformen. Hier wirkt auch Hillas Projekt – den Verwandten das „Alltagslatein“ und die lateinischen Wurzeln eingedeutschter Wörter zu vermitteln. Im Bild der Sprache werden die tiefen Gräben zwischen Bildung und Arbeit, unteren Klassen und höheren Schichten verdeutlicht. Wie tief diese Gräben sind, erfährt Hilla immer wieder – ob als Nachhilfelehrerin am Tischende mit einem Würstchen abgespeist oder als Aschenputtel vom rettenden Ritter ins Cocktailkleid gezwängt – und sie behauptet sich, indem sie Bildung als Schutzschild gegen die Welt nutzt. Uneingeschränkt.

So entsteht eine Figur, die seltsam unberührt bleibt, die stetig beobachtet und doch nicht teilnimmt, die keine Nähe zulässt. Hillas unglaubliche Zähigkeit, ihr Misstrauen, ihre Sturheit, ihr Stolz und auch die Fähigkeit der Verdrängung bewahren sie vor einigem – auch vor der Zudringlichkeiten der Leser. Sie enthalten ihr jedoch auch vieles vor – und ebenso dem Leser. Die Figur der Hilla, so autobiographisch sie geprägt sein mag, bleibt starr, unnahbar und wenig entwicklungsfähig.

Doch es ist nicht nur ein Roman, der sich an den Nöten einer Heranwachsenden versucht. Es ist auch ein Sittenbild, eine Detailstudie gesellschaftlichen Lebens in den 1960er-Jahren. Politische Aspekte aus Vergangenheit und Gegenwart werden heraufbeschworen – die Aufarbeitungsversuche der Verbrechen unter nationalsozialistischem Regime, die Debatten um Kollektivschuld und Einzelvergehen, der Mauerbau, das Kennedy-Attentat.

Ulla Hahn hat genau recherchiert, doch was sie erzählt, klingt oft eher zitiert als erlebt. Ob Anstandsregeln oder Fernsehprogramm, Kleiderordnung oder Musikstil, Weltpolitik oder Kriegsverbrecherprozesse – alles stimmt, doch ist es nicht so recht stimmig. Konstruierte Dialoge, erzwungene Pointen, Figuren als Handlungsträger ohne Gesicht – von der dichten Atmosphäre, Originalität und Frische des letzten Buches ist nur wenig geblieben. Dieses Wenige, zumeist auf den Dondorfer Dunstkreis beschränkt, ist jedoch überaus prägnant. Hierzu gehören beispielsweise die Frauen um Hilla und ihr Leben zwischen Kirche, neu eröffnetem Supermarkt und der Sorge um das „Kapital”; oder auch die Auseinandersetzungen mit dem Vater und dessen überraschende Unterstützung für Hilla, als diese zum Studium nach Köln geht.

Doch leider sind diese authentischen Fragmente selten und so bleibt ein Roman, der den pädagogischen Impetus nicht verhehlen kann und am Versuch, individuelle und gesellschaftliche Geschichte überzeugend zu schildern, scheitert. Weder die Figur der Hilla noch die beschriebenen Umstände können überzeugen, bleiben im Formelhaften stecken und lassen den Wunsch nach einem dritten Teil verblassen.

Titelbild

Ulla Hahn: Aufbruch. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
586 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042637

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